Was ist eigentlich wahre Weltliteratur? Welche Autor*innen haben die wichtigen Klassiker geschrieben? Johann Wolfgang von Goethe, William Shakespeare, Ernest Hemingway, James Joyce, usw. Die Liste kann man fast endlos fortsetzen, allerdings werden hauptsächlich männliche Namen draufstehen. Warum ist das so? Und wie wird auch zeitgenössische Literatur von Autorinnen oft noch immer abgewertet? Über weibliches Schreiben und dessen Rezeption schreibt Nicole Seifert in ihrem Buch FRAUEN LITERATUR – Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt. Seifert trifft mit ihren Beobachtungen den Nagel auf den Kopf – ich habe beim Lesen die meiste Zeit zustimmend genickt und konnte für mein eigenes Leseverhalten einiges mitnehmen.
Das eigene Leseverhalten reflektieren
Wie divers liest du? Diese Frage sollte man sich meiner Meinung nach vor allem als Vielleser*in stellen. Und auch die Autorin Nicole Seifert hat sich das an einem Punkt ihres Lebens gefragt. Im Bezug auf das Geschlechterverhältnis in ihrem Bücherregal hat Seifert nachgezählt und festgestellt, dass es definitiv mehr Autoren als Autorinnen sind. Daraufhin hat sie angefangen, ausschließlich Bücher von Frauen zu lesen. Auch ich habe irgendwann begonnen mein Leseverhalten zu hinterfragen und beschlossen, weniger Bücher von weißen Männern zu lesen. Dafür möchte ich mich mehr auf Frauen, BIPOC und queere Personen fokussieren. Es funktioniert ganz gut. Dieses Jahr habe ich bisher 25 Bücher gelesen, 15 davon waren von Frauen. Abseits dessen zu lesen, was als das gilt, was man „gelesen haben sollte“ und sich auch mal darauf einzulassen, sich nicht unbedingt mit dem Gelesenen identifizieren können zu müssen, kann definitiv den Horizont erweitern. Als Konsument*in hat man außerdem die Macht, bestimmte Perspektiven und Geschichten aktiv zu unterstützen. Das macht auch das erste Kapitel von FRAUEN LITERATUR deutlich.
Kanon
Das Thema Klassiker und die Frage, welche Bücher man gelesen haben muss, beschäftigt mich schon lang. Im Bachelor habe ich englische Literatur studiert. Dadurch wird man zwangsläufig mit diesen Themen konfrontiert. Zum Glück haben wir im Studium nicht nur Männer besprochen und ich durfte tolle Autorinnen wie Jane Austen, Charlotte Perkins Gilman und Toni Morrison kennenlernen. Doch dass Frauen im sogenannten Kanon der Weltliteratur wahnsinnig unterrepräsentiert sind, steht wohl außer Frage. Seifert beschreibt eindrucksvoll die Machtdynamiken, die dahinterstehen:
„Autorinnen spielen in der Literaturgeschichte – oder besser: in der Literaturgeschichtsschreibung – eine marginale Rolle. […] Das lieg nur bedingt daran, dass es nur wenige Autorinnen gegeben hätte, und es liegt überhaupt nicht daran, dass sie eben nichts „Wichtiges“, nichts „Gutes“ geschrieben hätten.“
Frauen wurden aus den Listen der sogenannten Weltliteratur geradezu herausgedrängt, beschreibt Seifert in FRAUEN LITERATUR. Denn welche Romane die Zeit überdauern und welche in Vergessenheit geraten, entscheiden zumeist ebenfalls Männer. Diesen Aspekt fand ich als ehemalige Literaturstudentin besonders spannend. Welche historischen Werke von Autorinnen sind wohl dadurch in Vergessenheit geraten?
Zeitgenössische Literatur
Doch auch in der Gegenwart ist es nicht wirklich besser. Leider gibt es nicht viele offizielle Statistiken zum Geschlechterverhältnis bei veröffentlichten Verlagen, allerdings verdeutlicht Seifert durch einige Zählungen und Belege, dass es hier noch viel zutun gibt. Das Verhältnis der Geschlechter ist unausgeglichen und Autorinnen werden auch noch ganz anders rezipiert und besprochen als Autoren. Auch hier liefert Seifert einige Belege, die mich ganz schön wütend gemacht haben. Ist euch schonmal aufgefallen, dass der Begriff „Frauenliteratur“ gar nicht ungewöhnlich ist, es aber kein männliches Pendant dazu gibt? Denn wenn Männer etwas schreiben, heißt es nicht „Männerliteratur“ sondern einfach nur „Literatur“. Dabei gibt es kein spezifisch weibliches Schreiben. Unser Schaffen ist so divers wie das von Männern. Dieses Stigma des weiblichen Schreibens führt allerdings dazu, dass Frauen häufiger als Männer unter einem Pseudonym veröffentlichen oder ihre Vornamen abkürzen, damit man nicht erkennt, dass ein Buch von einer Frau geschrieben wurde. Wirklich traurig, dass so etwas noch nötig ist. Gleichzeitig scheint es mir aber doch so, dass immer mehr Bücher von Autorinnen, die erscheinen, als Hochliteratur angesehen werden. Und auch Buchpreise gehen häufiger an Frauen. Bis das Geschlechterverhältnis ausgeglichen ist, ist es allerdings noch ein weiter Weg.
Fazit
Nicole Seifert spricht in FRAUEN LITERATUR viele wichtige Themen an und macht es auf eine kluge und unterhaltsame Art. Vor allem für Literaturliebhaber*innen wird dieses Buch eine echte Bereicherung sein. Wahrscheinlich sind sich viele Leserinnen bewusst, dass in der Welt der Literatur bezüglich Geschlechtergleichheit noch viel aufzuholen ist. Für mich war es trotzdem großartig, das alles in FRAUEN LITERATUR so pointiert und klug dargestellt zu bekommen. FRAUEN LITERATUR versorgt uns mit den Fakten, die wir alle irgendwie schon geahnt haben, aber mit Hilfe dieses Buchs nun viel besser verbalisieren können. Und wie immer empfehle ich dieses Buch besonders den Leuten, die sich mit der Thematik noch nicht intensiv auseinandergesetzt haben. Reflektiert euer eigenes Leseverhalten!

Wenn ihr Lust bekommen habt, ein paar Bücher von Frauen zu lesen, schaut doch mal bei unseren feministischen Buchempfehlungen vorbei! Die Autorin des Buchs, Nicole Seifert betreibt außerdem einen Literaturblog, auf dem sie nur Bücher von Frauen bespricht. Auch hier findet ihr tolle Empfehlungen. Ein ähnliches Konzept verfolgen Boob Books, deren Gründerinnen wir in der Vergangenheit schon interviewt haben. An Inspiration sollte es euch nach diesen Tipps nicht Mangeln!
FRAUEN LITERATUR erschien im September bei Kiepenheuer und Witsch. Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar!