Cyberpunk

Ein Text von Jenni und Alike

Du stehst auf dem Dach eines Wolkenkratzers, es ist Nacht und ein leichter Nieselregen durchweicht deine Klamotten. Du trittst an die Brüstung und blickst in die Häuserschluchten der vor dir liegenden Großstadt. Die Gebäude schichten sich vor deinem Blick auf bis in den Horizont, Neonreklamen in bunten Farben leuchtet auf und Hologramme zittern durch den Regenschleier hindurch. Irgendwie kommt dir das alles bekannt vor? Kein Wunder, es ist schließlich DAS ikonische Bild des Cyberpunk schlechthin.

Szenen aus Ghost in the Shell (2017), Panini (2019) und Altered Carbon (2018)

Viele der stilprägenden Cyberpunkproduktionen haben gemeinsam, dass sie sehr atmosphärisch arbeiten. Das heißt, die Erzählung ist an entscheidenden Stellen weniger durch Handlung als durch die Beschreibung und Darstellung von räumlich erfahrbaren Dingen getragen. Die Verdichtung der unterschiedlichen räumlichen Ebenen von Hochhäusern und Straßentrassen in Kombination mit den starken Hell-Dunkel- und Farb-Kontrasten des nächtlichen Stadtlebens machen die Szenerie sehr greifbar und einprägsam. In diesem Artikel wollen wir uns damit auseinander setzen, was außer einer dichten Atmosphäre noch in diesem Genre steckt und wieso dessen Einfluss auch fast vierzig Jahre nach den Anfängen ungebrochen scheint.

Die Anfänge des Cyberpunk

Cyberpunk ist ein Subgenre der Science-Fiction mit einer thematischen Anlehnung an den Film noir und entwirft zum größten Teil düstere Zukunftsszenarien, in denen Technologie, Roboter und Hacker oft eine wichtige Rolle spielen. Die Welten der Cyberpunkgeschichten sind stark technologisiert, weshalb die Protagonist*innen oft als entfremdet innerhalb dieser Gesellschaften dargestellt werden. Das Genre entwickelte sich in den 1980ern und ist beeinflusst von Themen wie Kapitalismus, Korruption, Technik und Umweltverschmutzung, sowie deren Auswirkung auf die Gesellschaft, die zur damaligen Zeit sehr präsent waren. Erzählerisch bestimmen Fragen nach der Identität und Menschlichkeit in Zeiten von künstlicher Intelligenz und soziale Gegensätze zwischen Arm und Reich den Hintergrund vieler Cyberpunk-Geschichten.

Im Film gilt Blade Runner von Ridley Scott aus dem Jahr 1982 als Vorreiter des Cyberpunk-Genres. Er basiert auf dem Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen? von Philip K. Dick, der mit diesem Roman schon viele Themen und Motive verwendete, die später im Cyberpunk wichtig wurden. In der Literatur war William Gibson mit seinem Roman Neuromancer von 1984, dem ersten Teil der Sprawl-Trilogie (dt: Neuromancer-Trilogie), der Begründer der Bewegung. Gibson führt in diesem Roman, in dem der kleinkriminelle Hacker Case in den Kampf gegen eine künstliche Intelligenz geschickt wird, Genre-typische Begriffe wie Matrix und Cyberspace ein.

Popkulturelle Verbreitung

Inzwischen findet man die Einflüsse von Cyberpunk in allen möglichen Kulturgütern wieder. Eine Unzahl von Filmen und Serien wie Brazil, Akira, Gattaca, Matrix, Ghost in the Shell, Altered Carbon und viele weitere sind von Cyberpunk beeinflusst. Meistens sind es visuelle Elemente, die eindeutige Bezüge zu dem Genre herstellen. Da ist zum Beispiel das heiß-ersehnte Videospiel Cyberpunk 2077 des Studios CD PROJEKT RED. Es soll laut den Entwickler*innen trotz der weltweiten Corona-Pandemie pünktlich am 17. September 2020 erscheinen. Auch hier bevölkern coole Punks in Lederjacken, Hologramm-Frauen und Maschinenwesen eine immerzu düster und dreckig wirkende Großstadt. Die Standard-Figuren des Cyberpunks (der lone ranger, die korrupte Großmacht, der schmierige Barbesitzer) sind auch in den Trailern schon angedeutet und lassen vermuten, dass das Spiel auch auf der erzählerischen Ebene dicht an den Tropen des Cyberpunk dran bleibt. Da sich das Videospiel schon im Titel so explizit auf Cyberpunk beruft, wird vor allem die spielerische Umsetzung interessant sein. Ob sich da vielleicht neue Perspektiven ergeben?

Auch Musikvideos sind wie so oft ein zuverlässiges Trägermedium für stilprägende visuelle Strömungen. Dass im Fall Cyberpunk dabei sehr unterschiedliche Ergebnisse entstehen können, zeigt der Gegensatz zwischen Forest Swords Crow und Lil Nas X‘ Panini-Musikvideo. Das Visual zu Crow wählt das Motiv der beengenden, schmuddeligen Häuserschlucht mit einem langsamen, sog-artigen Zoom-In, passend zu dem düsteren und archaischen Track. Das Panini-Musikvideo wirkt hingegen wie eine augenzwinkernde Hommage an die klassischen Cyberpunk-Tropen: Die Farben sind ein bisschen knalliger, die Hologramme ein bisschen ironischer, die Roboter ein bisschen besser aufgelegt. Aber die Referenzen sind klar und deutlich.

Optisch nicht ganz so offensichtlich ist eine Strömung in der Mode, bzw. genauer gesagt im Bereich Streetwear. Seit einigen Jahren setzt sich unter dem Begriff „Techwear“ ein Trend durch, der auf der abstrahierten Ebene viel mit Cyberpunk zu tun hat. Schlüsselelemente des Trends sind zum Beispiel schwarze Anoraks, Cargohosen und dystopisch wirkender Mundschutz. Keine dieser Kleidungsstücke tauchen so in der typischen Cyberpunk-Ästhetik auf. Aber sie sind eine alltagsfähige, anziehbare Übersetzung der futuristischen und gleichzeitig düsteren Atmosphäre, die das Herzstück von Cyberpunk darstellt.

Die ersten Cyberpunk-Filme haben auch Inspiration aus realen, asiatischen Großstädten wie Tokio, Hong Kong oder Shanghai gezogen. In einem interessanten Zirkelschluss kehrt dieses Video mit stilisierten Aufnahmen von Hong Kong zu diesen Anfängen zurück. An dieser Stelle lässt sich besonders gut beobachten, wie reale Orte durch Schnitt, Kamerafahrten, Perspektive und nicht zuletzt Musik eine stiltypische Cyberpunk-Atmosphäre erhalten.

Veraltet oder Hochaktuell?

Ästhetisch und thematisch beeinflusst Cyberpunk seit den 1980ern die Popkultur, doch wie hat sich das Genre seitdem weiterentwickelt? In den letzten 40 Jahren hat sich technisch und gesellschaftlich viel verändert. Einige Zukunftsängste und -visionen sind gleichbleiben, manche Probleme haben sich verschärft, wieder andere sind heute weniger relevant. Die riesigen Leuchtreklamen und Neon-Leuchten aus Blade Runner sind längst eine nicht-mehr-wegzudenkende Wirklichkeit in vielen Großstädten und künstliche Intelligenzen sind ein wichtiges Teilgebiet der Informatik. Andere Motive, wie fliegende Autos, wirken heute nicht mehr erstrebenswert. Trotz dieser vielen Veränderungen was die Themen und Motive angeht, die im Cyberpunk aufgegriffen werden, scheint das Genre sowohl ästhetisch, als auch inhaltlich zu stagnieren. In einem Artikel von 2018 kritisierte die britische Tageszeitung The Guardian das Genre, weil es sich seit seinen Anfängen nicht weiterentwickelt habe. Der YouTube-Kanal Just Write greift das Argument in einem Video-Essay auf und geht auf die Stagnation des Genres am Beispiel von der Netflix-Serie Altered Carbon ein. Demnach wirkt Altered Carbon an vielen Stellen vor allem optisch wie eine exakte Fortsetzung zu Blade Runner von 1982. Im Gegensatz zum tatsächlichen Nachfolger Blade Runner 2049 aus dem Jahr 2017 wird auch inhaltlich nichts Aktuelles (wie z.B. Klimaerwärmung oder Umweltverschmutzung) angesprochen.

Trotzdem bricht der Einfluss von Cyberpunk nicht ab. Überall finden wir ästhetische und thematische Motive aus dem Cyberpunk wieder. Haben The Guardian und Just Write also unrecht? Worin liegt der unermüdliche Reiz des Genres? Darauf haben wir hier natürlich keine eindeutige Antwort, doch für uns persönlich gilt: Egal, wie oft wir diese Ästhetik schon gesehen haben, wir finden sie einfach immer wieder cool. Außerdem sind viele Themen des Cyberpunk noch immer relevant. Der drogenabhängige Hacker mag vielleicht heute ein wenig ausgelutscht sein. Aber in einer Welt, in der Maschinen immer mehr lernen, wie Menschen zu agieren, ist die Frage nach Menschlichkeit in einer technologisierten Welt immer noch eine interessante Thematik für uns. Auch die kühnen Stadtentwürfe und die sozialen Gegensätze zwischen Arm und Reich bleiben nach wie vor relevante Themen der Gegenwart.

Solarpunk: Die Zukunft des Genres?

Nur weil Altered Carbon aussieht wie ein eine Kopie von dem fast vierzig Jahre früher erschienenen Blade Runner, heißt das nicht, dass es nicht Künstler gibt, die das Genre weiterentwickeln.

Artwork von Imperial Boy

Muss es denn immer ein düsteres, dystopisches Szenario sein, das uns in Blade Runner und Altered Carbon begegnet? Auch das noch relativ neue Subgenre Solarpunk zeichnet Zukunftsszenarien, die allerdings durch eine positive und freundliche Grundstimmung gekennzeichnet sind. Die Menschen leben in Einklang mit der Natur, überwinden kulturelle Differenzen und finden Lösungen für soziale Ungerechtigkeiten. Während die Cyberpunk-Ästhetik oft das Stadtbild von Tokio erinnert, sehen im Solarpunk die Städte eher aus wie Singapur: grün, trotzdem hochmodern und multikulturell.

Die deutsche Autorin Marie Graßhoff entwirft zum Beispiel in ihrem neusten Roman Neon Birds eine solche Welt. In Neon Birds gibt es einen zentralen Weltrat, die ganze Welt ist zu einem Staat geworden, soziale Gerechtigkeit ist durch ein Grundeinkommen und die kostenlose Bereitstellung von Wohnungen gewährleistet, die Bevölkerung ist dazu angehalten, sich vegan zu ernähren und jeden freien Zentimeter zu bepflanzen, um das Ökosystem wieder zu stabilisieren. Diese utopische Zukunftsvision, die typisch für das Solarpunkgenre ist, mischt Graßhoff mit typischen Cyberpunk-Elementen, zum Beispiel, indem sie ins Zentrum der Handlung den Kampf der Menschheit gegen eine außer Kontrolle geratene künstliche Intelligenz stellt. Durch diese Motive greift sie Themen wie die aktuelle Umweltkrise und soziale Ungerechtigkeit auf und mischt sie mit der generellen Frage danach, was es heißt, ein Mensch zu sein. Das ist ihr wirklich unglaublich gut gelungen, große Leseempfehlung an dieser Stelle!

Fazit

Wie viele Zukunftsentwürfe sagt Cyberpunk mehr über die Ängste und Wünsche einer Gesellschaft des jeweiligen Entstehungszeitpunkts aus, als über die realen Zukunftsmöglichkeiten. Allein schon deshalb sind Cyberpunk-Werke sehr spannende und aussagekräftige Zeitzeugnisse. Aber sie faszinieren uns auch, weil sie eine beeindruckende künstlerische Sprache finden für Welten, die uns einerseits so fremd und andererseits doch so vertraut sind. Sie packen uns mit atmosphärischen Beschreibungen von menschengemachter Technik und entfremdeten Individuen. Wir finden uns wieder in existenziellen Fragen über unser Menschsein. Auch wenn viele Ausdrucksformen und Themen des Cyberpunk sich scheinbar in einer Endlosschleife drehen, kommen immer wieder auch neue Elemente dazu. Ob das nun eher utopisch angehauchte Solarpunk-Motive oder persiflierende Momente in Musikvideos sind, es bleibt spannend, wohin sich der Cyberpunk entwickelt.


Titelbild: Sean Foley, Unsplash

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