Das Zeitalter, in dem sich alles bewegt und lebt

Es kreucht, es fleucht, es krabbelt und knistert.
Alles ist in Bewegung, alles lebt.
Wir leben, sind vernetzt, sind eins, sind viele.
Wir sind multiple Singularität.
Die Welt ist vernetzt.
Die Welt, sie bebt, sie schaukelt, sie streckt ihre Tentakel aus.
Gaïa wacht.

In der Uni hatte ich letztes Jahr einen Kurs „In Catastrophic Times“ – jetzt ein (besonders) ironischer Titel. Ich habe den Kurs irgendwann aus Zeitgründen nicht mehr besucht, aber die Gedanken, die wir am Anfang erarbeitet haben, sind hängen geblieben. Der Kurs baute auf der Idee des Chthuluzäns auf.

Um dieses Wort zu erklären, gehen wir erst einmal einen Schritt zurück. Vielleicht habt ihr schonmal von dem Wort Anthropozän gehört. Das beschreibt das Zeitalter der Menschen, also das Zeitalter, in dem die Menschen einen (bleibenden) sichtbaren Einfluss auf die Welt haben. Unsere Zeit jetzt wird von vielen Wissenschaftler*innen als Anthropozän definiert. Durch die Industrialisierung und Globalisierung hat der Mensch einen so großen Einfluss auf die Natur, auf die Umwelt und die gesamte Welt, dass dieser die Welt und alles darin (und darum) für immer ändern wird. Das ist ein theoretischer Ansatz, um unsere Welt und unseren Platz darin zu erklären.

Das Chthuluzän beschreibt auch ein Zeitalter (wie man ja so schön am Suffix -zän erkennt). In diesem Zeitalter leben alle Wesen, speziell genannt Kritter, in einer Sympogenesis miteinander. Sympogenesis bedeutet in etwa, dass Alle in obligatorischer Symbiose miteinander leben. Dieses Chthuluzän findet auch jetzt gerade statt und ich beziehe mich bei dieser Weltanschauung vor allem auf die Theorien von Donna Haraway. Anstatt uns die Welt dabei aus der Perspektive des Menschen anzuschauen, schauen wir sie so aus der Perspektive des Kritters an. Denn Wir Alle sind Kritter, nur dass „Wir Alle“ auch bedeutet: Die Mikroben in unseren Bäuchen, die Bakterien auf unserer Haut, die Tiere im Wald und auch die Würmer in der Erde. Wir heben die Hierarchien auf, die der Mensch erschaffen hat und wir stellen uns die Welt mit allen Krittern darin als ein riesiges Netzwerk vor. Alle sind irgendwie miteinander verbunden und leben in Symbiose miteinander.

Das Individuum gibt es dann nicht (mehr). Denn wenn wir „uns Menschen“ als Individuen sehen, wo sind dann die Mikroben in unserem Bauch in dieser Gleichung? Sind sie eigene Individuen oder gehören sie noch zu unserem Individuum dazu? Haraway benutzt den Begriff der Holobionten, um die Gefüge aus Krittern zu beschreiben, die sympoietischen Arrangements, die Zellen, Organismen und ökologische Gefüge bilden, die wir vielleicht als Individuen sehen. In dieser Sichtweise der Welt sind sie nur eben keine Individuen, sondern eben komplexe Gefüge aus vielen Krittern, die in Symbiose zu leben.

Noch mehr zu diesem Thema mit ein paar netten Beispielen sagt Donna Haraway hier.

Unter diesem Link ist ein Talk von Donna Haraway dazu zu finden. Sie erklärt das nochmal ganz genau. Vimeo erlaubt leider nicht die Einbindung auf dem Blog, deswegen müsst ihr das direkt auf Vimeo anschauen…

Neulich sah ich mir dann den Film Snowpiercer an und (ACHTUNG, ES KOMMEN SPOILER) darin geht es um einen Zug, der durch eine unwirtliche Welt fährt und der ein komplettes Ökosystem beherbergt. Der Zug ist wie ein Klassensystem aufgebaut, hinten die Armen/Mittellosen, vorne die Reichen. Während eine Revolution aus dem Ende des Zuges sich zur Spitze vorkämpft, passieren die Mitstreitenden verschiedene Räume, auch mit Tieren und Pflanzen. Ihre Gefangene erzählt ihnen von dem komplexen Ökosystemen, die sie im Zug aufrechterhalten müssen (und wofür sie regelmäßig arme Menschen am Ende des Zuges opfern müssen). Dieser Film zeigt eine sehr simple Darstellung der Sichtweise aus dem Anthropozän heraus. Die Menschen sind die Bestimmenden über die Natur. Sie bestimmen über andere Menschen, aber auch über alle anderen Teile der Natur. Sie sehen sich als die Machthabenden. Sie (wieder in unserer wahren Welt) bestimmen etwa darüber, wie viele Raubtiere durch deutsche Wälder streifen dürfen oder wie viele Fische es in den Weltmeeren gibt.

(SPOILER FÜR SNOWPIERCER ZUENDE, JETZT kommen Spoiler über den FIlm NAUSICÄA) Die Sichtweise des Chthuluzäns ist aber eben eine andere. Sie wird stärker im Film Nausicäa vom Studio Ghibli porträtiert. Den Film haben wir im Kurs auch besprochen und gerade unter diesem Aspekt fand ich ihn sehr spannend. In diesem Film geht es um eine postapokalyptische Erde, die für die Menschen quasi unbewohnbar ist, weil Pilzsporen die Luft vergiften und riesige Insekten die Länder durchqueren, die häufig aggressiv auf Menschen reagieren. Während manche Menschen versuchen, gegen die Natur, die Pilze und Insekten anzukämpfen, haben andere gelernt, in Einklang mit ihr zu leben und auch zu verstehen, dass die Natur sich dadurch reinigt. Wir leben auch jetzt schon in einem System, indem alles miteinander verbunden ist, in Symbiose miteinander lebt, sich selbst reinigt und gar nicht als Opposition zu Menschen handelt. Der Unterschied ist nur, dass man in dieser Sichtweise sich nicht als Gegenstück zur Natur sieht, sondern als Teil von ihr.

Gleichzeitig wird jede Aktion auch ein Reaktion im System hervorrufen. So wie jeder Stein, der ins Wasser gefallen wird, Wellen erzeugt. So gibt es auf jedes Verhalten, jede Bewegung von „uns“ eine Antwort vom Ökosystem oder von Gaïa, der Welt, oder wie auch immer man dieses Geflecht aus Krittern benennen soll. Diese Antwort ist nie böse gemeint, sie ist garnicht „gemeint“, sie ist einfach nur.

Haraway spricht häufiger von der Verwebung von Wissenschaft und Kunst oder der Darstellung von den Prozessen um uns herum. Mich fasziniert schon länger die Doppelbelichtung von Bildern und die Pflanzen in unserem Garten. Ich mache seit Jahren Fotos von Blumen. Ich finde es einfach immer wieder schön sie zu sehen. Und obwohl ich weiß, dass sie immer wieder kommen werden und die Schönheit sicherlich auch in der Temporalität liegt, will ich sie immer wieder festhalten. Jetzt habe ich mein Blumenarchiv, größtenteils unverwendet, weil die Bilder sowieso nicht an die Realität herankommt (liegt sicherlich auch an meinen Fotografiefähigkeiten).

Aber wenn ich jetzt schon diese Bilder habe und wir uns mit dem Nachdenken und Neudenken beschäftigen, wollte ich etwas mit diesen Bildern machen. Wir haben gelernt, dass die Grenzen zwischen den Krittern und Holobionten nicht so einfach sind und immer wieder verschwimmen. Wir sind alles eins und so viele auf einmal. Deswegen habe ich angefangen, Bilder miteinander zu verschmelzen. Was dabei herausgekommen ist, ist irgendwie ungemütlich. Es ist nicht mehr so einladend, wie die Fotos individuell. Aber irgendwie reizt es mich genau das…

Das war eine kleine Vorstellung eines Teils der Theorie um das Chthuluzän. Ich hoffe, dieser Text und vielleicht auch die Bilder helfen euch, über die Welt und „unseren“ Platz darin nachzudenken. Wen das Thema interessiert, dem empfehle ich sehr, den Vortrag von Donna Haraway dort oben anzuhören und eventuell auch ihr Buch zu lesen: „Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene“ von 2014.

Die ultimative Vermischung sehr vieler Bilder

Ein Gedanke zu “Das Zeitalter, in dem sich alles bewegt und lebt

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