„Schlechte Nachrichten sind nicht das Ende einer Geschichte, sie sind erst der Anfang“, schreibt Journalistin, Filmemacherin und Autorin Ronja von Wurmb-Seibel in ihrem neuen Buch. Es heißt Wie wir die Welt sehen. Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien können und der Titel ist Programm. Das Buch ist ein Plädoyer dafür, unseren Nachrichtenkonsum, aber auch unsere eigenen Erzählungen zu hinterfragen, und neue Sicht- und Erzählweisen zu finden. Dabei ist es außerdem auch direkt praktische Anleitung, wie das gehen kann. Ist es also, wie die Zitate unter dem Klappentext loben, genau das Buch, das wir gerade alle brauchen und lesen sollten?
„Gut gegen Schlagzeilenburnout“
Da sich bereits mein letzter Blogbeitrag mit Negativismus in den Nachrichten und seinen Auswirkungen beschäftigt hat, ist vermutlich nicht überraschend, dass mich der ganze Themenkomplex und damit auch das Buch sehr interessieren. Allerdings heißt das natürlich auch, dass ich schon so einiges in dem Bereich gelesen und mir dazu Gedanken gemacht habe. Daher habe ich tatsächlich ein bisschen gebraucht, um in dieses Buch reinzukommen, da es mir erstmal nicht viel Neues gab. Ja, die Nachrichten sind überwiegend negativ. Ja, das hat Gründe. Und ja, das hat auch sehr starke Auswirkungen auf uns und darauf, wie wir die Welt sehen. Richtig eingestiegen bin ich erst so nach dem ersten Drittel, denn dann entwickelt das Buch auch sehr viel mehr Flow, weil die Autorin ab dem Punkt beginnt, ihre eigene Vorgehensweise zur Befreiung aus der Negativ-Spirale zu erläutern. Dazu kommen wir gleich noch. Zuerst aber noch ein Wort zu den negativen Nachrichten, um die es ja geht. Denn eigentlich geht es nicht um sie oder besser gesagt nicht nur um sie. Ronja von Wurmb-Seibel macht nämlich ein viel größeres Fass auf und findet, dass der Negativ-Filter Standard in unserer ganzen Kultur des Erzählens ist. Das dröselt sie im Verlauf des Buches nochmal auf in drei große Bereiche: Geschichten, die wir in den Medien konsumieren. Geschichten, die wir selbst erzählen. Und Geschichten, die andere uns erzählen. All diese Geschichten haben Einfluss auf uns und sind – Wunder oh Wunder – häufig negativ. Darum plädiert das Buch nicht nur dafür, den eigenen Nachrichtenkonsum kritisch zu betrachten, sondern auch das, was wir selbst berichten oder berichtet bekommen. Trotzdem liegt der Fokus hauptsächlich auf Nachrichten.
Scheiße plus X
Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich nun mit der Formel für den Perspektivwechsel, die Ronja von Wurmb-Seibel sich erdacht hat. Die Vorgehensweise nennt sie „Scheiße plus X“. Das ist vielleicht ein bisschen vulgär, trifft aber den Kern des Ganzen. Es gibt viel Scheiße auf der Welt und in unseren Köpfen. Katastrophen, Kriege, Krisen und Probleme – auf gesellschaftlicher Ebene und privat. „Die Scheiße steht für alles, was uns nicht gefällt.“ Negativ, negativ, negativ. Trotzdem ist es wichtig, sich dem nicht zu verschließen, sondern davon ausgehend weiterzudenken. Wir machen uns auf die Suche nach dem X. Denn X ist das, was wir aus dem Buch mitnehmen sollen. Und X meint: Was für Dinge können wir finden, um auf einen gedachten Idealzustand zuzusteuern? Das klingt vielleicht jetzt erstmal sehr theoretisch, ist aber in der Praxis klar ausführbar. Zuerst stellen wir uns das Problem so deutlich wie möglich vor. Dann überlegen wir uns einen Idealzustand, der das Problem beseitigen würde, so utopisch er vielleicht auch erstmal anmutet. Und dann suchen wir nach X, dem Weg, der uns einen Schritt weg vom Problem und in Richtung des Idealzustands bringt. Dabei geht es nicht darum, am Ende tatsächlich einen Idealzustand zu erreichen, sondern eine Richtung weg vom Negativen zu finden. Probleme existieren, aber Lösungen eben auch.
„Es geht nicht darum, dass wir uns nicht mehr beschweren, dass wir unseren Schmerz nicht mehr teilen oder unseren Mitmenschen nicht mehr erzählen, wenn es uns nicht gut geht. Das alles können wir weiterhin tun. Es geht nicht darum, dass wir nie mehr etwas Negatives sagen. Es geht lediglich darum, dass wir mögliche Auswege mitdenken, damit wir vor lauter Sorgen, Ärger oder Angst nicht vergessen, dass es sie überhaupt gibt.“
Wie wir die Welt sehen, S.162
Neben der Scheiße plus X-Formel und dazugehörigen Anleitung (schreibt Listen!) bietet das Buch noch allerlei weitere Handlungsempfehlungen. Mir hat die Idee, am Ende jedes Kapitels Experimente einzubauen, sehr gefallen. An diesen Stellen fordert von Wurmb-Seibel die Leser:innen dazu auf, sich auf unterschiedliche Arten mit den Inhalten der einzelnen Abschnitte und der Auswirkung auf ihr Leben auseinanderzusetzen. Das macht die ganzen theoretischen Überlegungen doch sehr viel erfahrbarer.
We are the sum of our stories
Das Buch existiert, wie schon gesagt, nicht in einem luftleeren Raum. Daher ist es eine Mischung aus eigenem Erfahrungsbericht und Zusammentragen von veröffentlichten Gedanken anderer. Das sind einerseits Bücher, Studien und Artikel zum Themenkomplex „negative Nachrichten“, die zum Großteil auch mir schon in meiner Beschäftigung damit begegnet sind. Aber es versammelt sich außerdem ein buntes Potpourri an vor allem auch gegenwärtigen Stimmen. Es finden sich Zitate von Aminata Touré, Chimamanda Ngozi Adichie, Rebecca Solnit, Luisa Neubauer, Kübra Gümüşay und Natascha Strobl, um nur ein paar zu nennen. Alles kluge Menschen, die in den letzten Jahren kluge Bücher geschrieben haben. Eine Literatur- und Bücherliste am Ende des Buches gibt Empfehlungen für weitergehende Beschäftigung mit den Themen, was ich sehr gut finde. Überhaupt hält das Buch auch ein Plädoyer für ein gemeinsames Suchen und Streben nach Lösungen.
An dieser Stelle möchte ich dann auch kurz noch ein paar Kritikpunkte anbringen (denn man soll das Negative ja nicht verschweigen, es nur nicht ausschließlich dabei belassen). Da ist einmal das erste Drittel, das ich ein bisschen holprig finde. Die Quellenlage geht manchmal etwas drunter und drüber, sodass in meinem Empfinden nicht immer klar erkennbar ist, wem welche Gedanken zuzuschreiben sind, aber das ist ja auch keine wissenschaftliche Abschlussarbeit an der Uni, bei der jede Referenz einwandfrei sein muss. Hin und wieder tauchen doch noch ein paar Rechtschreibfehler auf, die vielleicht ein erneutes Lektorat entfernen könnte. Und die eigenen Filme der Autorin müssen nun auch nicht jedes Mal mit fast exakt denselben Worten beschrieben werden, vor allem dann nicht, wenn sie im Laufe des Buches schon mehrmals referenziert wurden. Für meinen Geschmack schrapt sie auch nah an einem „Schaut-was-ich-alles-Tolles-gemacht-hab“ vorbei, auch wenn es natürlich ihr Buch ist und ihre anderen Werke und Erlebnisse daher nicht unwichtig.
Ich würde an dieser Stelle allerdings auch Nachsicht mit der Autorin walten lassen. Denn auch die Entstehung eines Buches passiert nicht in einem luftleeren Raum. Wie sie selbst im Nachwort angibt, fiel die Fertigstellung des Buches in die Zeit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021. Dass diese massive Auswirkungen auf alle hatte, die – wie ich eben auch – in dem Länderkontext arbeiten oder Verbindungen dorthin haben (Ronja von Wurmb-Seibel hat selbst mehrere Jahre in Kabul gelebt und einen afghanischen Pflegesohn), ist nur zu verständlich. Daher finde ich es auch verständlich, dass manche Gedanken und Absätze in dem Buch dann vielleicht nicht ganz so rund sind.
Fazit
Ronja von Wurmb-Seibel hat ein Buch geschrieben, das sehr gut in die aktuelle Zeit passt. Es gibt einen guten Überblick über verschiedene Denkweisen und klare Anstöße, wie man der Negativität in Nachrichten und Erzählungen entgegentreten kann. Wahrscheinlich ist es für einige wirklich genau das Buch, das sie gerade brauchen. Ich würde nicht sagen, dass die Autorin das Rad neu erfunden hat, aber das muss sie ja auch nicht. Wenn das Buch am Ende auch nur einem Menschen dabei hilft, sich besser zu fühlen, nicht mehr ohnmächtig vor einem Problem zu stehen oder eine neue Sicht auf die Welt zu bekommen, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Insofern würde ich eine Leseempfehlung für alle aussprechen, die sich nicht sowieso schon ausführlich mit dem Themenkomplex beschäftigt haben.
Danke an den Kösel-Verlag für das Rezensionsexemplar.
Beitragsbild: Populärkollektiv