Rezension: Mithu Sanyal – Identitti

Ein Roman über eine der gewichtigsten Debatten unserer Zeit: Identitätspolitik

Identitti ist ein herausforderndes und zugleich witziges Buch von Mithu Sanyal. Darin geht es um die Studentin Nivedita Anand, die auf ihren Blog unter dem Pseudonym Identitti zu den Themen Liebe, Gender und Race schreibt. Als Person of Color mit polnischer Mutter und indischem Vater beschäftigen sie die Fragen, was ihr Ich-Bewusstsein ist, ihr eigentliches Selbst und wo sie Zugehörigkeit empfindet. Womit und mit wem kann sie sich identifizieren, wenn doch in Filmen und Büchern hauptsächlich weiße Frauen zu sehen sind? Außerdem ist da Indien, ein Land, in dem Nivedita noch nie war und so schnell auch nicht hin hinkommen wird.

„Ihr Problem war, dass sie das Gefühl hatte, Identitäten seien etwas für andere Leute. Und sie hätte kein Anrecht darauf, weil sie zwischen alle Kategorien und durch alle Ritzen fiel. Sogar die meisten Theorien zu Rassismus bezogen sich nicht auf Menschen wie sie, sondern auf … eindeutigere Menschen.“

Seite 48

In ihrem inneren Konflikt sucht sich Nivedita Hilfe bei der Hindu-Göttin Kali, die sie zeitweise herbeiruft, die manchmal aber auch ungefragt erscheint. Kali ist das genaue Gegenteil von Nivedita oder dem, was sie meint sein zu wollen. Kali beugt sich keiner Autorität, ist frech und eine allmächtige Zerstörerin, die beim Sex immer oben liegt und an ihrer Hüfte einen Gürtel aus abgerissenen Männerarmen trägt.

An der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf findet Nivedita eine reale Person, die ihr aus dem Ohnmachtsgefühl heraushilft und mit der sie sich identifizieren kann: die renommierte Professorin für Postcolonial Studies Saraswati. Selbst eine bekennende Person of Color, die durch ungewöhnliche Lehrmethoden auffällt. So verweist sie bereits in ihrer ersten Stunde alle Weißen aus dem Seminar, damit sie am eigenen Leib erfahren, was Rassismus und Ausgrenzung bedeutet. Doch Saraswatis außergewöhnliche Art und ihre interessanten Kurse sind beliebt wie ein Popkonzert. Sie wird von ihren Studierenden angebetet wie eine Göttin.

Chaos im Identitätsdiskurs

So richtig ins Rollen gerät die Debatte rund um Identität, als herauskommt, dass die antirassistische Starprofessorin gar keine PoC ist und ihre weiße Herkunft unterschlagen hat. Ihr Name ist eigentlich Sarah Vera Thielmann und sie ist Deutsche. Die Gesellschaft, Studierende und Bekannte reagieren auf ihr Verhalten mit Vorwürfen der kulturellen Aneignung und Rassismus.

Der Roman ist ein Mix aus der eigentlichen Geschichte um Nivedita, ihrem Blog und Twitter-Beiträgen. Viele der Tweets aus dem Roman sind von Menschen, die bekannt sind: Hengameh YaghoobifarahFatma Aydemir, Meredith Haaf, Patrick Bahners, Ijoma Mangold. Die Autorin Mithu Sanyal hat sie um fiktive Tweets für ihren Roman gebeten, um Vielstimmigkeit zu zeigen. Die Abwechslung zwischen Ich-Erzählung und Online-Beiträgen macht das Leseerlebnis spannend und unterhaltsam.

Fatma Aydemir@fatma­_morgana das mit „PoC ist eine Selbstbezeichnung“ war eigtl anders gemeint #SarasWhitey

Sibel Schick @sibelschick Almans wünschen sich hart, rassistich unterdrückt zu werden. Aber geht halt nicht, deshalb malen sie sich die Haut einfach mal paar Nuancen dunkler wie so ein Peinlo Peter am Rosenmontagszug. #SaraswatiShame

Dackelchen@FrolleinVerpissDich #Saraswatishame Das ist nicht Rassismus, das ist einfach nur widerlich“

Seite 55

Für die Professorin Saraswati ist Race jedenfalls ein gesellschaftliches Konstrukt. Ihrer Meinung nach können auch Weiße durch Zuschreibungen zu Opfern gemacht werden. Schritt für Schritt dekonstruiert der Roman den ambivalenten Begriff von Race an sich. Nivedita hält auf ihren Blog den innerlichen Konflikt fest und stellt die Frage, wenn Geschlecht fluide sein kann, warum nicht auch die eigene Herkunft? Die Twitter-Community hat schnell ein Wort für diese Diskussion #transracial.

Was bedeutet das für das Nachdenken über Rassismus?

Die Debatte um #racialdrag wird im Roman als gezielte Provokation der Autorin genutzt. In ihren Auftritten in Talkshows erklärt Saraswati „Race ist eine Story“ und meint damit, dass man selbst entscheidet, ob man sich als PoC bezeichnet. Mit dem Wissen über die Lernmethoden aus der ersten Seminarstunde wirkt dieses Statement absurd, hat sie doch die Studierenden in zwei Gruppen geteilt. Es geht in dieser Debatte nicht allein um die Theorie, die in den Universitäten vermittelt wird, es geht um echte Lebenswelten, die man manchmal nur aushält, indem man über ihre Absurdität lacht. Nach dem Lesen des Buches wünscht man sich, dass über kulturelle Identität öfter mal mit ähnlicher Selbstironie wie in Identitti gesprochen würde.

Der Auslöser für dieses Buch war übrigens die Debatte um Rachel Dolezal, eine amerikanische Professorin, die sich als Schwarze ausgab und 2015 von den Medien als „Weiße“ geoutet wurde. Das zeigt, die Handlung im Roman ist zwar erfunden, aber nicht unwahrscheinlich.

Fazit: Lesenswert!

Mithu Sanyal bringt einem wirklich zum Nachdenken. Humorvoll, klug und mitleidlos zeigt sie aus der Perspektive von Nivedita, wie divers und komplex die Konstrukte um Identität und Rassismus sind. Oftmals wird über diese Themen verbissen geschrieben, in diesem Buch hingegen hat man das Gefühl, man ist bei der Diskussion selbst anwesend und alle bekannten Argumente der Kulturwissenschaft werden Schritt für Schritt und ohne Scheuklappen mit einbezogen.

Beitragsbilder: Franziska Venjakob

2 Gedanken zu “Rezension: Mithu Sanyal – Identitti

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