Rezension: „Unsere anarchistischen Herzen“ von Lisa Krusche

Alles beginnt damit, dass Charles‘ Vater nackt durch Berlin rennt. Charles per Uber hinterher. Das ist der Einstieg in Lisa Krusches Debütroman Unsere anarchistischen Herzen. Was fulminant beginnt, plätschert dann allerdings erstmal ein bisschen vor sich hin, entwickelt aber rund um die beiden Protagonistinnen einen Sog, sodass man trotz einiger Längen eigentlich nicht möchte, dass das Buch endet.

Lisa Krusche und ihr Roman kamen mir erstmals beim Debütpreis der litCologne dieses Jahr unter. Dort stellte sie ihr Werk neben Mithu Sanyals Identitti (dessen Rezension von uns ihr hier findet) und der späteren Gewinnerin Anna Brüggemann mit Trennungsroman vor. Seitdem hatte ich das Buch auf meiner Leseliste – zumal ich immer dafür bin, deutsche Nachwuchsautorinnen zu unterstützen. Ich kann mir gut vorstellen, dass man von Buch und Autorin noch einiges hören wird.

Die anarchistischen Herzen, das sind die von Charles (oder Charli) und Gwen (kurz für Gwendoline). Diese zwei sehr unterschiedlichen Mädchen sind die zwei Protagonistinnen des Buches, aus deren beiden Sichten wir lesen. Charles, die mit ihren Post-Hippie-Eltern von Berlin aufs Land bei Hildesheim ziehen muss, worauf sie mal so gar keinen Bock hat. Und Gwen, die dort schon lebt und absolut unglücklich in ihrem reichen Elternhaus ist. Die Kurzbeschreibung skizziert die Leben der beiden und lockt damit, dass diese verschiedenen Personen sich treffen werden. Daraus stellt sich für die Handlung die Frage, was dann passiert. Soweit die Prämisse. Allerdings dauert es – kleiner Spoiler – über 200 Seiten, genau die Hälfte des Buchs eigentlich, bis Charles und Gwen dann wirklich aufeinandertreffen. Das heißt, all die Seiten davor lernen wir die beiden in ihren jeweiligen Leben und Gefühls- und Gedankenwelten ganz gut kennen. Die Sichtweisen wechseln schnell, selten ist ein Kapitel länger als drei Seiten, sodass Leser*innen ständig sich mal im Kopf und Leben der einen und dann wieder der anderen befinden. Das kostet eine kurze Gewöhnungszeit. Aber nach und nach sind mir zumindest die Haupt- und auch die Nebenfiguren sehr ans Herz gewachsen und es ist umso schöner, wenn die zwei Protagonistinnen sich begegnen und die Liebe zueinander schnell entbrennt. Wollen wir nicht alle eine Person, die uns in unserer Verlorenheit ein bisschen einfängt?

„Mir fehlen vielleicht ein paar Pläne“, sagt er, „so aufs große Ganze gesehen. Aber jetzt seid ihr ja da. Das ändert auch was.“

„Ich dachte eigentlich, ich weiß genau wohin.“

„Das ist großes Glück“, sagt Fred.

„Trotzdem bin ich hier“, sage ich.

„In deinem Alter muss man das eigentlich nicht wissen“, sagt Fred, „Das ist der große Luxus.“

S. 197

Das Buch ist vermutlich eins, das auch sehr an seine Zeitlichkeit gebunden ist. Da gibt es Instagram, Twitter, Tinder und Memes. Es gibt eine Streamerin, die den ganzen Tag nur Games spielt und damit ordentlich Geld verdient. Es gibt aus einem unerfindlichen Grund keine Internetprobleme im Ländlichen. Es wird über Messenger geschrieben, statt anzurufen. Immer wieder blitzt eine von Anglizismen durchzogene Jugendsprache durch. Aber tatsächlich ist meiner Meinung nach die Sprache eine der tollsten Sachen am Buch. Lisa Krusche kann definitiv schön schreiben und ich finde, man merkt, dass sie nicht nur eine Geschichte erzählen wollte, sondern es auch darum geht, wie sie diese Geschichte erzählt. Wenn man sich einmal an die immer wieder nur in Kleinbuchstaben gehaltenen Messenger- und Social-Media-Einschübe gewöhnt hat, dann lässt sich das Buch sehr einfach runterlesen.

Insgesamt ist Lisa Krusche ein sehr schöner Debütroman gelungen. Zwar zieht es sich manchmal ein bisschen und es gibt natürlich – wie das Leben mit 16/17 Jahren so ist – oft auch viel Drama um nichts. Aber trotz vieler Drogen und starker Fixierung auf das unglückliche Selbst ist es eine ansprechende fiktionale Welt, in die man sich für ein paar Stunden reinfallen lassen kann. Ich würde allerdings dem Lektorat empfehlen, für die zweite Auflage noch mal drüber zu gehen, gerade in den letzten Kapiteln sind mir ein paar Fehlerchen ins Auge gesprungen (etwa, wenn die jeweilige Ich-Erzählerin plötzlich von sich selbst in einem Satz in dritter Person spricht. Vielleicht war das auch ein absichtlich künstlerischer Griff, der mir dann allerdings nicht ganz verständlich ist).

Wer also eine zeitgemäße, ein bisschen rotzige, ein bisschen poetische Coming-of-Age-Geschichte lesen möchte, dem sei Lisa Krusches Buch ans (anarchistische) Herz gelegt.

Unsere anarchistischen Herzen ist am 28. April 2021 bei S. Fischer erschienen. Danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

Beitragsbild: Populärkollektiv

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