Aller Anfang ist schwer

Es ist die allererste Berührung. Mit ihm beginnt eine Reise in ferne Welten oder fremde Zeiten. Durch ihn tauche ich ab und lasse mich auf Neues ein. Er nimmt vorweg. Er gibt Rätsel auf. Er ist unausweichlich. Scheinbar aus dem Nichts taucht er auf. Er berührt. Er fesselt. Er weist uns den Weg. Er verrät und ist trotzdem ein Geheimnis. Die Rede ist vom ersten Satz in Büchern.

„Der erste Satz muss sitzen“

Jedes Buch hat einen ersten Satz. Das ist keine große Erkenntnis. Doch ich habe mir nie wirklich genau Gedanken darüber gemacht, wie wichtig der Einstieg in ein Buch ist. Jedes Märchen beginnt mit „Es war einmal…“, also ziemlich vorhersehbar. Die meisten ersten Sätze in Romanen geben aber direkt Gas und werfen die Leser*innen mitten ins Geschehen hinein – sie beginnen in medias res: In Situationen mit Konflikten oder Problemen, die erst im Laufe des Plots aufgelöst werden. Wenn der erste Satz Lust auf mehr macht und wir schnell weiterlesen wollen, dann haben die Autor*innen alles richtig gemacht. Wohl kaum eine*r legt ein Buch nach dem ersten Satz weg. Doch gelingt der Anfang nicht, hat das Buch es bei den Rezipient*innen leider schwer.

Der erste Satz ist für den deutschen Literaturwissenschaftler Peter-André Alt ein Verführungsversuch. Ich finde diesen Vergleich ganz gut. Der erste Satz ist unsere erste Berührung mit dem Buch. Ist der Einstieg gelungen, dann bleiben wir dran. Alt geht aber sogar noch weiter: Für ihn ist der erste Satz der Wichtigste des ganzen literarischen Textes. Dieser bildet die Grundlage des Erzählens. Ohne ihn würden keine Geschichten stattfinden. Im Interview beim Deutschlandfunk fasst er die Funktion der ersten Sätze zusammen:

Sie sind vielleicht die zentralen Sätze eines jeden Romans, einer jeden Erzählung, denn von ihnen hängt ab, ob das Buch Gefallen findet, ob man weiterliest. Natürlich hat ein Buch mehrere Chancen als nur den ersten Satz, aber der erste Satz muss sitzen, sonst funktioniert es nicht mit der Lektüre.

Peter-André Alt

Die Meister*innen der starken ersten Sätze

Erste Sätze können ganz unterschiedlich sein: Manche sind kurz und schlicht:

Renate Gabor geht es schlecht.

Giulia Becker, Das Leben ist eins der Härtesten

Oder fast schon seitenausfüllend und sehr detailliert:

Das eigentümliche Veilchenaroma, welches das Fleur de Sel in den Tagen nach der Ernte verströmte, vermischte sich mit dem Geruch von schwerer Tonerde sowie dem Salz und Jod in der Luft, die man hier, mitten im Weißen Land – dem Gwenn Rann, der weitflächigen Salinenlandschaft der Guérande –, mit jedem Atemzug noch stärker roch und schmeckte als anderswo an der Küste.

Jean-Luc Bannalec, Bretonisches Gold

Historisch gesehen ist es wohl Kafka, dessen ersten Worte am meisten beeindrucken und dessen erste Sätze immer sitzen. Wer jetzt denkt: Der schreibt doch so lange Sätze, die- oder derjenige hat Recht. In seinen ersten Sätzen hält er sich mit der Länge jedoch zurück, bringt aber trotzdem sehr dicht Informationen unter und gibt Einblicke in die folgende Erzählweise seiner Werke.

Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.

Kafka, Der Prozess

Vor allem durch die Formulierung „jemand musste“ werden Fragen bei den Lesenden aufgeworfen. Der erste Satz von Der Prozess macht neugierig und wir wollen wissen, was Josef K. passiert ist. Auch in Kafkas Werk Die Verwandlung werden die Leser*innen in seinen Bann gezogen und wir möchten erfahren, warum es so kam, was er träumte und wie es nun weiter geht.

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.

Kafka, Die Verwandlung

Für mich ist Benedict Wells ein Meister der starken ersten Sätze unserer heutigen Zeit. Er thematisiert die Wichtigkeit vom ersten Satz eines Buches auch in seinem neuesten Roman Hard Land. Hier setzt sich der Protagonist selbst mit diesem Thema auseinander. Natürlich hat der Roman an sich auch einen sehr gelungenen Einstieg:

In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.

Benedict Wells, Hard Land

Wells nimmt hier einen großen Teil der Geschichte vorweg und baut trotz des Spoilers aus meiner Sicht unglaublich viel Spannung auf. Dieser erste Satz beschreibt den gesamten Plot des Buches. Die Leser*innen müssten gar nicht weiterlesen, eigentlich wissen sie schon alles. Doch genau das ist der Punkt: Sie wollen wissen, was genau passiert und bleiben dran – so ging es zumindest mir.

Auch sein bekanntestes Werk Vom Ende der Einsamkeit, für das er 2016 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet wurde, hat einen tollen Einstieg. Hier zieht er die Leser*innen direkt in die Stimmung hinein – irgendwo zwischen Leben und Tod, die sich über das ganze Werk hindurchzieht.

Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.

Benedict Wells, Vom Ende der Einsamkeit

Wer noch nicht genug hat…

Für euch haben wir eine kleine Liste erster Sätzen aus unseren Lieblingsbüchern zusammengestellt, die uns besonders gut gefallen. Danke an das ganze Populärkollektiv für eure Ideen.

„Als Erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee.“
Wolfgang Herrndorf, Tschick

„Im Spätsommer jenes Jahres leben wir in einem Haus in einem Dorfe, das über den Fluss und die Ebene bis zu den Bergen hinübersah. “
Ernest Hemingway, In einem anderen Land

„Es ist 11.23 Uhr, und Wenger versucht sich einen runterzuholen.“
Mareike Fallwickl, Das Licht ist hier viel heller

„The world changes faster than we can fathom in ways that are complicated.“
Roxane Gay, Bad Feminist

„Mr and Mrs Dursley, of number four, Privet Drive, were proud to say that they were perfectly normal, thank you very much.“
J.K. Rowling, Harry Potter and the Philosopher’s Stone

Warnung: Kinder, es kann gefährlich sein, mit dem Weltuntergang zu spielen!
Terry Pratchett und Neil Gaiman, Ein gutes Omen

„Der Moriskentanz ist allgemeiner Brauch im ganzen Multiversum.“
Terry Pratchett, Alles Sense

Bildquelle: Unsplash/Dollar Gill


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