Der Titel sowie der Klappentext des Romans „Hätte ich dein Gesicht“ suggerieren, dass es vom Schönheitswahn der gesamten Welt im Allgemeinen und Korea im Spezifischen handelt. Das ist zwar ein wichtiges Thema des Buchs, aber bei weitem nicht das einzige. „Hätte ich dein Gesicht“ hat mich durch seine Vielschichtigkeit überrascht, die vor allem durch die wechselnden Perspektiven der vier unglaublich interessanten Protagonistinnen entsteht. Kyuri arbeitet mit ihrem makellosen Gesicht in einem sogenannten „Room Salon“, wo sie Nacht für Nacht mächtige und reiche Männer unterhält. Ara ist eine stumme Friseurin, die sich ein schillerndes Leben in der Welt der K-Pop-Stars erträumt. Miho ist aufstrebende Künstlerin und findet sich in der Elite wieder, in der sie sich gar nicht wirklich wohl fühlt. Wonna wünscht sich sehnlichst ein Kind, um in ihrem Leben eine Person zu haben, für die sie da sein kann und die sie braucht.
Im Laufe der Geschichte folgen wir den vier Protagonistinnen, die sich alle mehr oder weniger gut kennen. Sie wohnen im selben Haus und sie alle verbindet, dass sie unter der oberflächlichen Gesellschaft und vor allem unter den sozialen Ungleichheiten leiden. Alle vier Protagonistinnen sind abhängig von jemandem: Bei Kyuri sind es die mächtigen Männer, die sie Tag für Tag bespaßt und die mit einem Fingerschnippen ihr Leben zerstören könnten, wenn sie sich auch nur einen Fehltritt erlaubt. Der Zwang, perfekt auszusehen, hat sie dazu gebracht, sich mehrfach das Gesicht operieren zu lassen, was sie in immense Schulden getrieben hat. Ara ist auf die Gunst des Managers des Friseursalons angewiesen, für den sie arbeitet. Zudem hat sie eine ungesunde Obsession mit einem K-Pop-Idol entwickelt, in die sie sich immer wieder hineinflüchtet, wenn sie in ihrem eigenen Leben keinen Sinn mehr erkennen kann. Miho ist abhängig von der Gunst ihrer elitären Freund*innen, ohne deren Hilfe es schwierig ist, als aufstrebende Künstlerin Fuß zu fassen. Und Wonna ist auf das Geld ihres Ehemanns und die Gunst ihrer Chefin angewiesen, wenn sie Mutterschutz nehmen und für ihr Kind da sein möchte.
Die vier Frauen, die wir in dieser Geschichte begleiten, sind sehr verschiedene und sehr schwierige Personen. Und doch habe ich wahnsinnig gern über sie gelesen und Zeit mit ihnen verbracht. Sie haben zwar ihre Fehler und sind mitunter sogar unsympathisch, wirken aber in ihrer jeweiligen Situation sehr authentisch und nahbar. Sie alle schlagen sich selbstbestimmt durch eine Welt, die nicht besonders nett zu ihnen ist. Und während die Frauen mir schon einzeln gut gefallen haben, war es besonders schön, sie zusammen zu erleben und all die Momente der weiblichen Solidarität zwischen ihnen zu begleiten. Die Bedeutung von Schwesternschaft und weiblicher Solidarität würde ich als Kernthema dieses Romans definieren. Denn keine der vier Frauen muss sich allein durch das Leben schlagen. Wenn es hart auf hart kommt, sind sie füreinander da.
Die Erzählperspektive wechselt kapitelweise zwischen den einzelnen Frauen hin und her. So wird es natürlich nicht langweilig, weil man immer wieder in ein anderes Setting geworfen wird. Die Geschichte kam mir durch die Erzählform allerdings auch teilweise zerstückelt vor und an einigen Stellen ging mir das Ganze nicht genug in die Tiefe. Über die Frauen, die ich besonders spannend finde (Miho und Kyuri), hätte ich gern noch mehr gelesen, auch wenn alle Geschichten außer Wonnas in meinen Augen schön und halbwegs zufriedenstellend abgeschlossen wurden.
Fazit
„Hätte ich dein Gesicht“ behandelt spannende Themen wie soziale Ungleichheit iund weibliche Solidarität und glänzt vor allem durch unglaublich interessante und tiefgründige Protagonistinnen. Auch wenn ich mir an der ein oder anderen Stelle noch etwas mehr Tiefe und Spannung gewünscht hätte, empfehle ich den Roman in jedem Fall weiter.

„Hätte ich ein Gesicht“ erschien im Juli im Unionsverlag und wurde übersetzt von Nicole Seifert. Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.
Beitragsbild: Jennifer Wilken