Aminata Touré ist seit 2019 Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages und Sprecherin für die Themen Migration und Flucht, Antirassismus, Frauen und Gleichstellung, Queerpolitik, Religion sowie Katastrophenschutz und Rettungsdienst bei den Grünen. Sie ist nicht nur die erste afrodeutsche Vizepräsidentin in Deutschland, sondern auch die jüngste. Über ihren Weg in die Politik und ihren Erfahrungen als Schwarze Frau hat sie nun ein interessantes und sehr persönliches Buch geschrieben.
„Für alle, die Wege gehen, die vor ihnen noch niemand gegangen ist“ (Aminata Touré)
Vor einigen Jahren bin ich zufällig auf den Instagram-Kanal von Aminata Touré gestoßen. Dort berichtet sie über ihren Alltag als Politikerin, ihre Aufgaben und nimmt Stellung zu aktuellen Themen. Doch wie es zu der Berufswahl kam, war mir bisher noch nicht klar und hat mich nun sehr beeindruckt. Kurz bevor Aminata Touré 1992 geboren wurde, sind ihre Eltern aus Mali geflohen. Lange Zeit war nicht klar, ob sie in Deutschland bleiben können. Die ersten Jahre lebte die Familie in einer Flüchtlingsunterkunft. In ihrer Kindheit musste sie schnell lernen, dass es Menschen gibt, die sie aufgrund ihres Äußeren unterschätzen. Ihre Mutter sagte zu ihr und ihren Schwestern: „Dort wo andere 100 Prozent geben werden, werdet ihr 200 Prozent geben müssen, um dasselbe zu erreichen“ (S. 27). Im Rückblick empfindet die Autorin gemischte Gefühle bezüglich dieser Maxime. Denn sie versteht die Gründe, wieso ihre Mutter diese Worte wählte, sie wollte ihre Töchter für die Zukunft wappnen. Doch erst später erkannte sie, dass es man die Tatsache, dass es Menschen gibt, die von Minderheiten zusätzliche Anstrengungen fordern, nicht akzeptieren darf. Genau für diese und andere Ansichten steht sie nun im Landtag ein. Auch wenn der Weg dahin nicht einfach war, sondern laut Touré „die Ausnahme“ und „eine besondere Geschichte“ (S. 56). Täglich merkt sie, dass es Schwarze Frauen wie sie in den politischen Räumen, zu denen sie Zutritt hat, kaum gibt.
„Guck, du bist doch das Beispiel dafür, dass jede*r es schaffen kann“ Bullshit. Ich bin genau das Beispiel dafür, dass es eine Seltenheit ist.
(S. 54)
Kritik an Politik linker Parteien
Aminata Touré positioniert sich, wie zu erwarten, sehr deutlich gegen rechte Politik und Rassismus innerhalb unserer Gesellschaft. Doch besonders interessant fand ich, dass sie auch bei der Politik linker Parteien mehr Empathie für Migrant:innen und Respekt für ihre Biografien fordert. Debatten über Obergrenzen und Abschiebungen und Fragen bezüglich der Bemühungen von Migrant:innen, die einhergehen mit der Frage, wer es verdient habe, in Deutschland zu bleiben, sind aus ihrer Sicht Gründe, warum es keine linke Mehrheit gibt. Außerdem sei die Orientierung an konservativen Parteien und die Tatsache, dass (auch linke) Politiker selten Informationen herausgeben, wieso es zu Kompromissen innerhalb von Regierungskoalitionen kam, oft ein Grund, dass das linke Profil an Substanz verliert (S. 172).
Geht in die Politik!
Die Autorin versucht gerade FLINTA*s (Frauen, Lesben, inter-, nicht-binäre, trans- und agender-Personen) und BIPOC’s (Black, Indigenous, und people of color) zu ermutigen und sich (noch mehr) politisch zu engagieren. Die Gesellschaft müsse Minderheiten (noch mehr) Gehör verschaffen. Sich ausschließlich über die Politik zu beklagen reiche nicht aus, es müssten mehr Menschen, die linke Positionen vertreten, in die Institutionen, um Politik für alle zu machen. Damit alle Menschen vertreten sind, müssen sich auch die marginalisierten Stimmen trauen und sich nicht von konservativen Machtstrukturen und Kompromissen einschüchtern lassen. Aminata Touré beschreibt, dass sie immer wieder gesagt bekommt, dass sie nicht wie eine Politikerin wirke. Ob diese Aussage ein Kompliment ist, komme auf den Kontext an. Wenn Menschen eine negative Einstellung gegenüber Poltiker:innen haben, sei das erstmal kein Grund zur Freude, doch wenn sie diese Auffassung ändern kann, dann schon: „Wenn man den Anspruch hat, anders Politik zu machen, muss man davon überzeugt sein, dass das, was man tut, richtig ist. Und das bedeutet nicht, dass das was die anderen tun und getan haben, falsch ist und war.“ (S. 206).
Fazit
Wir können mehr sein. Die Macht der Vielfalt ist ein empowerndes, aufschlussreiches, rührendes, interessantes und inspirierendes Buch. Aminata Tourés reflektierte Art, sowohl die eigenen Reihen als auch die Politik selbst zu kritisieren, machen das Buch besonders authentisch. Sie findet klare Worte gegen Rassismus, berichtet von persönlichen Erlebnisse, von Erfolgen und vom Scheitern. Sie macht deutlich, was sich in unserer Gesellschaft verändern muss und startet damit einen Aufruf, sich selbst in der Politik einzubringen. Mir persönlich hat an manchen Stellen leider der rote Faden gefehlt. Die meisten Kapitel hängen thematisch sehr gut zusammen, bei einigen wurde jedoch inhaltlich etwas gesprungen. Dem Leseerlebnis und der Kernaussage des Buches hat es allerdings nicht geschadet. Sehr gut haben mir ihre Gedichte zwischen den Kapiteln gefallen. Sie sind sehr emotional, berührend und eindrucksvoll geschrieben.
Wir können mehr sein erschien im August 2021 beim KiWi Verlag. Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.