Rezension: „Emotionale Gleichgewichtsstörung“ von Jürgen Wiebicke

Neues Jahr, neues Glück: Viele von uns starten sicherlich mit viel Energie, Motivation und den ein oder anderen guten Vorsätzen ins neue Jahr. So geht es mir auch: Ich habe viele Ideen und Pläne für 2024 – doch halt: Da war noch etwas! Die Krisenherde haben sich im vergangen Jahr erweitert und auch 2024 wird sicherlich ein Jahr, in dem wir mit vielen negativen Dingen belastet werden – seien es Kriege, Klima- und Umweltkrisen oder auch steigende Preise, bei denen wir uns immer weniger leisten können. All diese Dinge, die wir so gar nicht in der Hand haben, belasten mich mental ziemlich. Um das Ganze von einer philosophischen Seite anzugehen, möchte ich euch das im November 2023 erschienene Buch von Jürgen Wiebicke und seine Gedanken vorstellen. Allein der Titel hat mich schon überzeugt: „Emotionale Gleichgewichtsstörung: Kleine Philosophie für verrückte Zeiten“. Die ein oder der andere kennt den Kölner Journalisten Jürgen Wiebicke vielleicht vom philosophischen Radio auf WDR 5. Zudem gehört er zur Programm-Leitung der phil.cologne.

Um was geht es?

Ganz grob lässt sich sagen: Der Autor möchte uns in Zeiten dieser unglaublich vielen Krisen Mut und Hoffnung machen. Er beschreibt das Gefühl, dass viele von uns momentan bei den Polykrisen, wie er es nennt, Angst, Wut und Hilflosigkeit verspüren. Vieles befinde sich momentan im Umbruch. Die lange Windstille und das Gefühl von Sicherheit und Wohlstand kommen an ihre Grenzen. Das Leben sei anstrengender und ernster geworden. Uns begleite deshalb Ungeduld und Unwissenheit – und das darf auch so sein, so Wiebicke. Doch es sei wichtig, dass wir seelisch stabil bleiben oder wieder werden.

Genau in diesen schwierigen Zeiten habe laut Wiebicke die Philosophie ihre Sternstunde. Deshalb rückt er die Gedanken verschiedener Philosoph*innen der Vergangenheit in den Fokus und beschreibt, wie Michel de Montaigne, Hannah Arendt, Sokrates, Jean-Paul Sartre und viele andere mit den Themen Angst und Krise umgehen. Er fasst die Theorien bzw. Gedanken zusammen und spiegelt diese auf unsere heutige Zeit.

Kleine Philosophie zum Mitnehmen

Es gibt viele Denkanstöße, die Jürgen Wiebicke den Leser*innen in seinem Buch mitgeben möchte. Da diese vielen philosophischen Gedanken für den Blogbeitrag zu ausufernd wären, fasse ich euch ein paar Denkanstöße zusammen, die ich aus dem Buch für mich mitgenommen habe.

  • Wir alle zählen: Auch wenn wir denken, dass alles immer schlechter wird und wir nur hilflos dabei zusehen können, appelliert Wiebicke an die verändernde Kraft der*des Einzelnen. Auf jede und jeden kommt es an. „Sie sind es, die mit ihrem Mut zum Experiment anderen ein Beispiel geben und zu eigenem Mittun inspirieren.“ Unsere aktive Zivilgesellschaft ist laut Wiebicke das „Immunsystem der Demokratie“.
  • Keine Chance dem Pessimismus: Wenn wir uns nur auf das Dunkle, Instabile und Bedrohliche fokussieren, würden wir seelisch instabil und jede Art von Zuversicht schwinde. Wir müssten positiv bleiben und die Welt nicht nur ertragen, sondern gestalten. Wir dürften nicht in chronischen Pessimismus fallen, der uns lähme. „Wenn die Zuversicht schwindet, geraten wir in emotionale Gleichgewichtsstörungen, die sowohl individuell als auch kollektiv riskant sind“, so Wiebicke.
  • Schnelllebigkeit der Krisen: Gestern Corona, heute Krieg und morgen Umweltkatastrophe. Die Krisen kommen immer häufiger und dank Internet – egal ob News-Ticker oder Social Media – auch immer schneller bei uns an. Das werfe nach Wiebicke bei uns viele Fragen auf wie: „Wie viel von dem, was uns als schlechte Nachricht in die passive Rolle des Konsumenten bringt, kann ich an mich heranlassen, ohne selbst düster zu werden?“ oder „Was ist mir nah, was fern, was berührt mich, was lässt mich kalt?“. Gerade aus der Schnelllebigkeit schließt Wiebicke, dass wir lernen müssten, mit dieser Endlossserie aus Reizen zu leben und betont, dass bei dieser Geschwindigkeit auch Vieles schnell wieder vergessen wird.
  • Unsere Perspektive ist beschränkt: Sokrates berühmte Aussage er selbst wisse, dass er nichts wisse, nimmt Wiebicke zum Anlass, die Leser*innen daran zu erinnern, dass unsere eigene Perspektive beschränkt ist und wir auf andere Sichtweisen angewiesen sind. Wir sollten unsere Unwissenheit akzeptieren und andere Perspektiven als Bereicherung empfinden.
  • Mein Lieblingszitat aus dem Buch:

„Wenn Angst und Mutlosigkeit regieren, sind es die kleinen Schritte, die zunächst eingeübt werden müssen, um allmählich wieder nach von zu kommen. Sie sind es, die die nächsten Schritte nach sich ziehen und wie Zuversicht wieder wachsen lassen, dass es doch immer Alternativen zum Bestehenden gibt.“

Jürgen Wiebicke in „Emotionale Gleichgewichtsstörung“

Mein Fazit

Jürgen Wiebicke schafft es in einer doch sehr einfachen Sprache, die komplexen philosophischen Theorien aus verschiedenen Zeiten zusammenzufassen und gleichzeitig Impulse für unsere heutige Situation mitzugeben. Diesen umfassenden Überblick in die wichtigsten Gedanken der Philosophie fand ich sehr gut. An der ein oder anderen Stelle könnte der Autor aus meiner Sicht den Bogen in unsere heutige Zeit noch etwas weiterspannen und detailliertere Denkanstöße mitgeben. Die Tiefe hat mir manchmal gefehlt. Doch vielleicht sind es genau die Leerstellen an manchen Punkten, die die Leser*innen selbst zum nachdenken bringen sollen. Mir hat das Buch aber sehr gut gefallen und ich kann es allen weiterempfehlen, die sich für Philosophie – nicht nur in Krisenzeiten – interessieren.

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