Seit die Aufnahme des US-amerikanischen Musicals Hamilton auf dem Streaming-Dienst Disney+ verfügbar ist, haben wohl die meisten von dem Hype mitbekommen, den es generiert hat. Hamilton war mir lange als popkulturelles Phänomen bekannt, mit dem ich keinerlei Berührungspunkte hatte, da ich keine Möglichkeit hatte, es mir anzuschauen. Doch im Juli dieses Jahres war es endlich so weit: Ich schaute mir den sogenannten Hamilfilm endlich an. Seitdem höre ich das Album rauf und runter, habe mir das Musical weitere fünfmal gesehen, folge dem gesamten Original Cast auf Instagram und weiß deutlich mehr über amerikanische Geschichte als vorher. Mit Hamilton hat sich für mich ein neues Fandom entwickelt – und jetzt, 4 Monate nachdem ich das Musical zum ersten Mal gesehen habe, möchte ich meine Gedanken dazu teilen. Warum ich dieses Musical so liebe und was ich daran auch problematisch finde, könnt ihr hier lesen.
My Name is Alexander Hamilton
Um erstmal alle mit ins Boot zu holen, die Hamilton nicht gesehen haben, folgt hier eine kleine Zusammenfassung. Das Musical erzählt die Lebensgeschichte von Alexander Hamilton, einem der Gründerväter der USA. Es geht um die amerikanische Revolution, den Unabhängigkeitskrieg gegen England und die ersten Jahre nach Erklärung eben dieser Unabhängigkeit. Im Zentrum steht auch Alexander Hamiltons Rolle in dieser Revolution, sein Privatleben und die Fragen, warum er nie Präsident geworden ist und wieso heute eigentlich so wenig über ihn bekannt ist. Musikalisch ist das Ganze ein Mix aus Hip-Hop, Jazz, R&B und Musical. Das gesamte Stück – Geschichte, Text und Musik – wurde von dem Genie Lin Manuel Miranda geschrieben, der auch im Original Cast die Hauptrolle übernahm. Bei dem Film, der auf Disney+ zu sehen ist, handelt es sich um eine Aufnahme der Broadway-Version.
America, You Great Unfinished Symphony
Wenn man es nüchtern betrachtet, passt es nicht wirklich zu mir, dass ich Hamilton so liebe. Niemand kann leugnen, dass es wahnsinnig amerikanisch ist (duh). Meine persönliche Beziehung zu den USA würde ich allerdings als ambivalent bezeichnen. Ich verstehe amerikanischen Patriotismus nicht und ich verstehe nicht, wie Menschen Trump zum ihrem Präsidenten wählen können. Ich bin von dem Amerika-Zentrismus der Welt generell und der Popkultur im Besonderen genervt. Mich nervt das Monopol, das Hollywood in der weltweiten Filmbranche innehält, und ich finde es schade, dass es dadurch Popkultur und besonders Filme aus anderen Ländern oft wahnsinnig schwer haben. Das spüre ich besonders dann immer wieder, wenn ich für mein Interesse an asiatischer Popkultur belächelt werde, weil diese Art der Kultur hier nicht ernst genommen wird. Ich habe oft das Gefühl, in vielen amerikanischen Filmen und Serien sieht man ständig dasselbe. Ein Musical über die Gründungsgeschichte von Amerika scheint da nicht unbedingt die richtige Wahl für mich zu sein. Warum hat es mich dennoch so umgehauen?
History Has Its Eyes on You
Meine Einstellung gegenüber Amerika hat sich durch Hamilton zwar nicht wirklich verändert, allerdings hat mir das Musical zu mehr Verständnis verholfen. Ich verstehe jetzt viel besser, woher dieser amerikanische Patriotismus kommt, den ich als so seltsam empfinde. Die Amerikaner*innen blicken mit stolz auf ihre Geschichte und ihre Revolution zurück. Während die meisten Länder Europas noch von einer Monarchie regiert wurden, etablierte Amerika schon eine Demokratie. Und die Verfassung von 1787 ist bis heute die Basis des politischen Handelns in Amerika1. Ob es allzu sinnvoll ist, sich an Werte zu klammern, die über 200 Jahre alt sind, ist natürlich fragwürdig. Allerdings verstehe ich das ganze jetzt besser.
Ein weiterer, spaßiger Geschichtsfaktor an Hamilton: Ich kenne jetzt viele random Fakten über die amerikanische Geschichte. Ich weiß, wann die Schlacht bei Yorktown stattfand („The Battle of Yorktown: 1781“), ich weiß die Namen der ersten 4 amerikanischen Präsidenten und ich weiß, dass Eliza Schuyler Hamilton 96 Jahre alt geworden ist. Auch außerhalb der Fakten, die ich in dem Musical selbst gelernt habe, hat mich Hamilton dazu motiviert, mehr über die historischen Figuren herauszufinden. Mich hat vor allem interessiert, an welchen Stellen das Musical die tatsächlichen historischen Gegebenheiten zu Gunsten des Narratives verdreht hat. So habe ich zum Beispiel herausgefunden, dass Angelica Schuyler schon verheiratet war, als sie Alexander Hamilton kennenlernte, und sie sich deshalb wahrscheinlich nicht wirklich auf den ersten Blick in ihn verliebt hat2. Auch die frühe Beziehung zwischen Hamilton und Burr ist übertrieben dargestellt3. Natürlich erwarten wir von einem Musical keine akkurate Darlegung historischer Ereignisse, sondern mitreißende Musik und eine fesselnde Story. Trotzdem hat es mir Spaß gemacht, diese Dinge zu recherchieren. Und ich habe auf jeden Fall etwas dazu gelernt (ob mir dieses Wissen je nützen wird, ist eine andere Frage). Allen, die mehr dazu wissen möchten, lege ich folgendes Video ans Herz:
Ein besonders grandioser Aspekt an Hamilton: Die Hauptdarsteller*innen aus dem original Cast – und auch aus allen nachfolgenden Casts, soweit ich weiß – sind alle BIPoC (mit Ausnahme von King George, for obvious reasons). Die Persönlichkeiten, die sie verkörpern, waren natürlich weiß. Das sagt für mich verschiedene Dinge aus. Lin Manuel Miranda, der selbst puerto-ricanischer Herkunft ist, gibt so Darsteller*innen of colour einen Platz in dem sonst sehr weiß geprägten Theater- und Musical-Umfeld. Er zollt außerdem den musikalischen Strömungen in dem Musical Tribut, die allesamt aus der Schwarzen Kultur stammen. Ein Rap-Musical, das die Geschichte von weißen Amerikaner*innen erzählt, hätte ohne die Beteiligung von Schwarzen Menschen doch einen bitteren Beigeschmack gehabt. Außerdem schafft Miranda für sich und seine fellow BIPoc-Amerikaner*innen einen Platz in der amerikanischen Geschichte. Zwar kamen BIPoC zu der Zeit, zu der das Musical spielt, noch nicht vor. Aber jetzt sind sie Teil der amerikanischen Gesellschaft.
A Civics Lesson From a Slaver
Was man allerdings nicht leugnen kann und thematisieren sollte: Die Gründerväter von Amerika, die in diesem Musical zu einem großen Teil von Schwarzen Männern gespielt werden, waren Sklav*innenhalter. Dies wird an mehreren Stellen sogar thematisiert, zum Beispiel in dem Song Cabinet Battle #1, in dem Alexander Hamilton zum Secretary of State und späteren Präsidenten Thomas Jefferson sagt:
A civics lesson from a slaver, hey neighbor
Cabinet Battle #1
Your debts are paid ‚cause you don’t pay for labor
„We plant seeds in the South. We create.“ Yeah, keep ranting
We know who’s really doing the planting
Thomas Jefferson besaß in seinem Leben mehr als 600 Sklav*innen. Zwar hat er sich hin und wieder gegen Sklaverei ausgesprochen, allerdings hat es ihn nicht davon abgehalten, Sklav*innen zu besitzen4. Er hatte sogar Kinder mit seiner Sklavin Sally Hemings. Seine Linie lässt sich bis heute nachverfolgen und sein Nachfahre der neunten Generation, der Afro-Amerikanische Nachrichtensprecher Shannon LaNier, hat sogar ein Portrait von Jefferson nachgestellt. Aber auch Alexander Hamilton5 und George Washington6 besaßen wahrscheinlich Sklav*innen. Allerdings wird vor allem Hamilton im Musical in einem viel positiveren Licht gezeichnet. In Stay Alive singt Laurence: „I stay at work with Hamilton. We write essays against slavery“. Es gibt sogar ein drittes Cabinet Battle, das es nicht ins fertige Musical geschafft hat, allerdings auf YouTube verfügbar ist. Hier nimmt Alexander Hamilton eindeutig eine Contra-Haltung gegenüber Sklaverei ein.
Sollte man historische Persönlichkeiten, die schlimme Dinge getan haben, als Held*innen feiern und in so epischer Form darstellen? Ich kann das nicht beantworten, vor allem nicht als weiße Person. Aber dass in Hamilton nur BIPoC mitspielen, zeigt für mich eins: Dass sich BIPoC selbst einen Platz in der amerikanischen Popkultur und der amerikanischen Geschichte schaffen.
Include Women in the Sequel
Ich kann natürlich nicht mein Lieblingsthema außen vor lassen: Frauen. Es spielen drei wundervolle Frauen im Hamilfilm mit, die ich sehr bewundere: Phillipa Soo als Eliza Schuyler, Renée Elise Goldsberry als Angelica Schuyler und Jasmine Cephas Jones als Peggy Schuyler und Maria Reynolds. Ich habe – wie die meisten – mein Herz an Angelica verloren. Ihr Solo Satisfied ist mein Lieblingslied des gesamten Musicals und ich finde Angelica ist definitiv eine feministische Figur. Sie weiß ganz genau, was sie will. Da sowohl sie als auch Alexander zu große Ambitionen haben, widersteht sie seinen Annäherungsversuchen – auch ihrer kleinen Schwester Eliza zuliebe, die sich ebenfalls in Alexander verliebt hat. Sie entscheidet sich bewusst gegen eine Beziehung mit ihm, weil sie weiß, dass er sie nicht glücklich machen könnte. Sie ist selbstbestimmt, aber in gewisser Hinsicht auch selbstlos. Und sie verlangt nach einem Platz in einer von Männern bestimmten Welt. Ihr Rap-Part im Song The Schuyler Sisters gehört ebenfalls zu den Stellen, die ich sehr gern höre:
I’ve been reading Common Sense by Thomas Paine
The Schuyler Sisters
So men say that I’m intense or I’m insane.
You want a revolution? I want a revelation
So listen to my decleration:
„We hold these truths to be self-evident
That all men are created equal“
And when I meet Thomas Jefferson,
I’m ‚a compel him to include women in the sequel! Work!
The Schuyler Sisters strahlt wahre Frauenpower aus, deshalb habe ich großen Spaß an dem Song.
Eliza Schuyler ist also die Glückliche, die Alexander heiraten darf. Sie verliebt sich unsterblich in ihn und bringt das natürlich auch in einem Song zum Ausdruck: „Boy, you got me helpless“. Eliza stellt einen Kontrast zu Angelica dar: sie ist eine aufopferungsvolle und liebende Ehefrau, die ihrem Ehemann allerdings auch Kontra bietet. Für mich hat Eliza jedoch zu sehr das Stereotyp jener Frau erfüllt, die sich in einen Mann verliebt, weil er heroisch und ehrgeizig ist, im Verlaufe der Beziehung aber immer öfter wütend ist, weil er ständig weg ist, um seinen heroischen und ehrgeizigen Tätigkeiten nachzugehen. Es gibt wundervolle Momente zwischen Eliza und Alexander („Forgiveness!“) und auch tolle Solo-Songs von ihr (vor allem Burn). Allerdings kommt ihr großer Moment, in dem sie wirklich glänzt, leider erst im aller letzten Song des Musicals. Ich möchte den Menschen, die Hamilton noch nicht geschaut haben, nicht zu viel vorwegnehmen. Alle anderen werden wissen was ich meine. Mein Kritikpunkt hier: Man hätte die Figur der Eliza besser darstellen können. Meine Wikipedia-Recherchen zu ihr haben ergeben, dass sie Alexander Hamilton oft bei seiner politischen Arbeit unterstützt hat und zum Beispiel maßgeblich an der Abschiedsrede von George Washington beteiligt war7. Diese Seite von ihr wurde in Hamilton leider nicht gezeigt. Mir ist bewusst, dass die Geschichte damals eben hauptsächlich von Männern geschrieben wurde, aber man hat sich sonst auch nicht besonders akkurat an historische Fakten gehalten. Hier wäre meiner Meinung nach noch Luft nach oben gewesen.
It’s the Ten Duel Commandments
Genug Gerede über amerikanische Geschichte und Frauenfiguren; kommen wir nun – endlich – zum Musical selbst. Denn natürlich kann der historische Hintergrund noch so gut umgesetzt sein, wenn Musik und Arrangement nicht überzeugen, langeweilt ein Musical. Ich finde, musikalisch sucht Hamilton vergeblich seinesgleichen. Ein Rap-Musical ist eine wahnsinnig tolle Idee und etwas so vorher noch nie da gewesenes. Hamilton bietet eher klassische Rap-Songs wie My Shot und die Cabinet Battles, aber auch typische Musical-Stücke wie You’ll Be Back und Helpless. Meine Lieblinge sind aber genau die Lieder, die beides vereinen und eine Mischung aus Rap und epischen Ensemble-Stücken darstellen, zum Beispiel Yorktown, Satisfied oder der Opening-Song Alexander Hamilton. Für mich ist die Musik wahnsinnig mitreißend und zeigt vor allem, was im Musical-Bereich alles möglich ist. Außerdem habe ich großen Spaß daran, die Rap-Parts der einzelnen Songs zu lernen – auch wenn ich das eher allein unter der Dusche übe, als es einem großen Publikum zu präsentieren.
Was mich an der Musik in Hamilton besonders fasziniert hat: Jeder Song ist wahnsinnig gut durchdacht und die einzelnen musikalischen Themen ziehen sich durch das gesamte Musical. Meine Kenntnisse im Bereich Musik reichen nicht aus, um das adäquat und an Beispielen zu beschreiben, deswegen schaut euch unbedingt dieses Video an, in dem das am Beispiel des Songs Ten Duel Commandments gezeigt wird.
Ich kann mich nur wiederholen: Lin Manuel Miranda ist einfach ein Genie.
Durch den Einsatz von immer wiederkehrenden Motiven und Melodien werden zudem auf wahnsinnig kluge Art Emotionen erzeugt. In diesem Video wird das am Beispiel von der Songzeile „Wait for it“ gezeigt:
Auch das Arrangement ist einfach der Wahnsinn. Sogar beim fünften Mal Schauen sind mir noch neue Dinge aufgefallen, die sich irgendwo im Hintergrund abspielen. Das Highlight ist für mich hier – mal wieder – Satisfied. Der Song beginnt mit Angelica, die auf der Hochzeit von Eliza und Alexander einen Toast auf das Brautpaar ausspricht. Doch dann setzt ein Rewind-Effekt ein, die Zeit wird zurückgespult und alles, was wir vorher aus Elizas Perspektive wahrgenommen haben, wird nun von Angelica erzählt. Sie berichtet, wie sie Hamilton kennengelernt, sich in ihn verliebt und ihm dann ihre Schwester vorgestellt hat. Die Bewegungen und Positionen der Darsteller*innen sind dabei zum großen Teil genau die gleichen. Das kann man zum Beispiel im folgenden Video gut sehen (bis der Rewind-Effekt einsetzt müsst ihr euch bis Sekunde 50 gedulden):
Wie bereits gesagt, in Hamilton ist wirklich alles bis aufs kleinste Detail durchdacht und aufeinander abgestimmt. Vieles davon kann man beim ersten Mal noch gar nicht erfassen (auch beim zweiten und dritten Mal nicht), aber man kann es natürlich auch ohne das alles genießen. Mir macht nicht nur das Musical selbst wahnsinnig Freude, sondern auch, mich durch die ganzen YouTube-Videos dazu zu klicken. Ob du nun an amerikanischer Geschichte interessiert bist oder nicht, ob du Rap magst oder nicht, ob du ein Musical-Fan bist oder nicht: Schau dir Hamilton an. Es könnte dir gefallen.
The Election of 2020
Abschließend möchte ich noch eine kurze Einordnung in aktuelle amerikanische Geschehnisse vornehmen. Als das Musical uraufgeführt wurde, war Barack Obama noch der Präsident der USA. Das ist für mich ein schöner Gedanke: Ein Musical, das die Gründungsgeschichte von Amerika ausschließlich mit BIPoC-Darsteller*innen darstellt, feiert wahnsinnig große Erfolge, während zum ersten Mal ein Schwarzer Mann Staatsoberhaupt ist. Dass der Cast Obama unterstützte, ist kein Geheimnis. Die Darsteller*innen waren sogar im weißen Haus, um vor den Obamas persönlich aufzutreten.
Als die Präsidentschaftswahlen 2020 näher rückten, rief der Cast von Hamilton zum Wählen auf. Die meisten Darsteller*innen unterstützten Joe Biden offen, offizielle Videos von dem Musical selbst zielten allerdings eher darauf ab, die Menschen überhaupt dazu zu bewegen, ihre Stimme abzugeben. Das ergibt besonders dann Sinn, wenn man bedenkt, dass viele junge Menschen in Amerika nicht zur Wahl gehen9.
Durch die popkulturelle Aufarbeitung der Geschichte versucht Hamilton diese vor allem jungen Menschen näher zu bringen und einen Unterschied zu machen. Um es mit George Washingtons Worten zu sagen: History has it’s eyes on you!
Ein Gedanke zu “Just You Wait: Hamilton – Das Musical”