Das Buch „Radikale Kompromisse“ von Yasmine M’Barek regt zum Nachdenken an und taucht in unterschiedliche Diskurse der deutschen Politik ein, um zu zeigen, wie Realpolitik funktioniert und warum sie wichtig ist.
Über die Autorin
Yasmine M’Barek ist 1999 in Köln geboren. Sie ist Redakteurin bei Zeit Online und besucht die Kölner Journalistenschule. Mit Twitter und Instagram hat sie sich eine Fangemeinschaft aufgebaut, bezeichnet sich aber selbst nicht als Influencerin. Mit ihrem politischen Wissen und journalistischen Können ist sie beliebter Gast in Talkshows.
Über den Inhalt
Realpolitik ist für Yasmine M’Barek das Ziel der Dinge. Sie schreibt, dass es in Diskursen zwei Pole gebe: Die, die alles so beibehalten wollen, wie es ist, und die, die Dinge ändern wollen. Die Stagnierenden und die Idealist*innen. Wichtig sei, dazwischen den radikalen Kompromiss zu finden. Dafür brauche es die Realist*innen. Da kommen wir auch schon zu meinem ersten Kritikpunkt. Ich würde das Buch den „Rationalen Kompromiss“ nennen. Denn gefühlt ist der Kompromiss halt oft nicht in der Mitte. Auch wenn M’Barek schreibt, dass wir uns in der Mitte treffen müssen. Das ist vielleicht nur meine persönliche Sichtweise, weil ich scheinbar eher zu den Idealist*innen gehöre, nicht wie gedacht zu den Realist*innen. Wo man jahrelang Inhalte erklärt und sich gefühlt nichts tut. Das ist sehr frustrierend. Ich meine: „Wow, danke. Im Jahre 2022 darf dann für Abtreibungen ‚geworben‘ werden.“
Andererseits verstehe ich, dass vieles oft nicht so leicht zu verändern ist wie das vorherige Beispiel. Dass man Inhalte von vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachten muss, kann ich als Borgen-Fan natürlich zu hundert Prozent nachvollziehen. M’Barek erklärt, dass es oft nicht zum Austausch käme, weil die Fronten verhärtet seien. Deswegen sei das miteinander wichtig, um den bestmöglich umsetzbaren Weg zu finden. I do see that point!
Sie verdeutlicht das am Bespiel von Atompolitik. „In der Atomdebatte wurde nie wirklich gestritten, sondern nur tabuisiert“, schreibt M’Barek. Auf einer Fridays-for-Future Demonstration 2021 habe eine Aktivistin mit einem Schild die Verwendung von Atomkraft für den Klimaschutz gefordert. Zwei Männer hätten das Schild gewaltvoll entrissen und sie weggezerrt. Somit seien unterschiedliche Meinungen in der Bewegung unsichtbar gemacht worden. M’Barek will verdeutlichen, dass auch in einer bestimmten Gesellschaftsgruppe unterschiedliche Meinungen existieren und das sei auch gut so. So gebe es auch nicht „die Alten“ und „die Jungen“.
Bei der Thematisierung der verschiedenen Themen wie Klimawandel, Impfpflicht und Politiker*innen ist mir aufgefallen, dass ich mich doch sehr wenig mit Politik auseinandersetze und tatsächlich auch keine Meinung zu Atompolitik habe. Es besteht also noch Hoffnung für Realpolitik, da sich noch nicht alle Menschen eine feste Meinung über bestimmte Themen gemacht haben. Auch nicht in der linken Bubble.
Vor allem der linken Bubble macht sie zum Vorwurf, dass viele Diskurse nur in bestimmten Kreisen stattfinden und ein Großteil der Bevölkerung ausschließt. Das ist ein großes Problem in politischen Diskussionen. Sie adressiert mit dem Buch aber selbst auch genau diese eine Bubble. Die sie offensichtlich provozieren möchte.
Zur Leseerfahrung
Für mich war es anfänglich nicht ganz einfach, in das Buch reinzukommen. Zum einen, weil die Autorin wie eine allwissende Erzählerin wirkt. Ein Buch in diesem Erzählstil habe ich ewig nicht mehr gelesen. Woher nimmt Gen Z dieses Selbstbewusstsein? Außerdem hat sich Yasmine M’Barek dazu entschieden, nicht zu gendern. Mittlerweile für mich auch sehr ungewohnt. Die Argumente, die sie angibt, überzeugen mich nicht. Ja, auch in dieser Diskussion sind die Fronten stark verhärtet und die Verurteilung folgt schnell – auf beiden Seiten. Wie oft ich mich schon nicht getraut habe zu gendern, kann ich gar nicht zählen. In dem Kapital schreibt sie auch: „Das Private wird politisch, oder anders gesagt: In der Politik interessiert Privates schlicht nicht.“
Ich weiß nicht so recht, wie ich diesen Satz deuten soll. Offensichtlich ist es eine Anspielung auf den Slogan der zweiten feministischen Welle in Nordamerika und Europa. Frauen nahmen zu der Zeit kaum an der Öffentlichkeit teil, weil diese beschränkt war. Deswegen war das Private wichtig, weil dort Frauen über ihre Lebensrealitäten reden konnten. Auch heute ist die Öffentlichkeit für viele Menschen weiterhin beschränkt. Somit bleibt das Private politisch, bis alle an der Öffentlichkeit teilhaben können. Also Frau M’Barek soll die Politik das Private wirklich ausschließen? Oder war die Aussage nur eine traurige Feststellung?
Wie man sieht, habe ich für Menschen, die nicht gendern ungefähr so viel Verständnis, wie für Menschen, die den Sommer nicht mögen (auch eine Aussage von M’Barek): Nämlich gar keins. Aber genau darum geht es in dem Buch. Dass man Kompromisse findet, miteinander redet und keine Kluft entsteht. Verständnis sozusagen siegt.
Ich gebe euch einen Tipp: Schreibt zu „Radikale Kompromisse“ ein Lesetagebuch. Es lohnt sich, anders als bei Büchern, wie zum Beispiel „Insel der blauen Delphine“. (Those who know, know.) Ich bin beim Lesen oft abgeschweift. „Abgeschweift“ ist hier das falsche Wort. „Ins Grübeln gekommen“ passt besser. Wegen des Buches habe ich über viele Dinge nachgedacht, was durchaus positiv ist, und habe die Inhalte mit meinen eigenen Erfahrungen verglichen. Demnach ist es ein gelungenes Debut. Der Wille zum Nachdenken ist auf jeden Fall Voraussetzung beim Lesen von „Radikale Kompromisse“.
Fazit
Kommen wir nun zum wichtigsten Kriterium: Wie wirkt das Buch in der Bahn? Das Buchcover zieht sehr viele Blicke auf sich. Es ist ja auch ziemlich fesch. Auch der Titel an sich lässt die Menschen denken, was für eine intellektuelle Persönlichkeit das Buch wohl liest. Dafür gibt es 10 Punkte.
Für das Buch an sich müsste ich ehrlich gesagt nochmal rein lesen, weil ich beim zweiten Blick doch nochmal viel Neues entdeckt habe. Auch wenn ich einiges kritisiert habe, ist das Buch gut geschrieben und sehr interessant. Ich gebe 8 Punkte. Es regt definitiv zum Nachdenken an: Wir sollten wirklich mehr miteinander reden. Manchmal ist es mir doch zu abgeklärt. Wenn dich bestimmte Themen persönlich betreffen oder auch wenn sie es nicht tun, ist ein kleiner Schritt in die andere Richtung einfach ein Schritt zu viel. Vor allem, wenn man schon ewig in der Mitte wartet.