Ein Gastbeitrag von Béla Csányi
Triggerwarnung: Dieser Artikel enthält Beschreibungen von physischer Gewalt.
Es ist der 31. Juli 2020, 17.20 Uhr. Feierabendverkehr in Mexiko City, einer gleichermaßen bunten wie gefährlichen Metropole mit rund 9 Millionen Einwohner*innen. Nach Hause, in die Außenbezirke der Megastadt und den benachbarten Bundesstaat Estado de México, geht es für Zehntausende von ihnen im Microbús – Kleinbusse der öffentlichen Verkehrsbetriebe für etwa zehn Fahrgäst*innen.
Im Microbús in Richtung der Stadt Texcoco sitzen an jenem späten Nachmittag fünf Männer, eine Überwachungskamera aus dem Innenraum zeichnet alles auf. Die Aufnahmen werden später den Weg in die Medien und ins Internet finden. Als der Bus zum Stehen kommt, reißen zwei Männer von außen die Tür auf, fordern die Wertsachen der Fahrgäste. Alles soll schnell gehen, so wie es rund um Mexiko City Tag für Tag etliche Male passiert. Zehn Überfälle gab es in den vergangenen Jahren im Schnitt pro Tag, etwas mehr als die Hälfte unter Anwendung von Gewalt. Doch dieser Überfall läuft nicht wie geplant.
Weil der Busfahrer plötzlich beschleunigt, schafft es nur einer der beiden Täter an Bord – sein bewaffneter Komplize verliert den Anschluss. Als der Räuber daher noch aus dem Bus flüchten will, hat der bereits Fahrt aufgenommen, ein Fahrgast versperrt den Fluchtweg. Sofort stürzen sich die fünf Männer auf den wehrlosen Täter, traktieren ihn minutenlang mit Schlägen und Tritten. Immer wieder fallen wüste Beschimpfungen.
Als die Tortur ein Ende hat, wird der Dieb aus dem Bus auf die Straße geschleift. Sein T-Shirt hat er bei der Auseinandersetzung bereits verloren, Hose und Unterhose ziehen ihm die Männer draußen noch vom Körper. Erst dann lassen sie von ihm ab. Handy-Aufnahmen von Zeug*innen zeigen das entstellte Opfer, das, so seltsam es klingt, Glück gehabt hat: Er ist noch einmal mit dem Leben davongekommen.
Fälle von Lynchjustiz in Mexiko dramatisch angestiegen
In den vergangenen Jahren stieg die Zahl der Fälle von Lynchjustiz im Land drastisch an. Manche der Opfer überleben die Angriffe von teils dutzenden aufgebrachten Zivilist*innen nicht. In einem ausführlichen Bericht arbeitete die Nationale Kommission für Menschenrechte (CNDH) im Jahr 2019 den Anstieg von Lynchjustiz seit 2015 auf. Lynchjustiz gehöre demnach zu den „deutlichsten Symptomen einer Krise aus Unsicherheit, Gewalt und Straffreiheit in unserem Land. Als Folge von Vertrauensverlust und Distanz der Gesellschaft zu den Behörden, der fehlenden Anwendung geltenden Rechts (…) und der Unfähigkeit der Regierung, ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, kanalisieren sich Resignation und Machtlosigkeit in gewalttätige Handlungen (…).“
Die rasende Wut in der Gesellschaft nimmt von Jahr zu Jahr zu. Eine Verrohung angesichts von täglich (!) 95 Morden im Land (im Jahr 2020) gehört ebenfalls zu den entscheidenden Gründen für die Entwicklung. Ein weiterer: Social Media. Seit einigen Jahren finden Videos versuchter Überfälle und anschließender Selbstjustiz vermehrte Beachtung bei Twitter, Facebook und Instagram. Sowohl aus offiziellen Überwachungskameras als auch durch diverse Handyvideos.
Die viralen Aufnahmen, brutal und unzensiert, werden dort teilweise von Millionen Menschen gesehen, geteilt – und für gut befunden. Die Verbreitung ist auch deshalb so groß, weil etliche Medien die Clips selbst teilen und damit Reichweite generieren. Einige besonders populäre Videos bekommen eigene Hashtags oder dienen als Vorlage für Memes. Sie erlangen so einen skurrilen Kultstatus, ihre Inhalte werden salonfähig. In den Kommentaren ist der Jubel groß, wenn las ratas, „die Ratten“, ihre vermeintlich gerechte Strafe erhalten. Selbst, wenn sie dabei in einigen Fällen mit ihrem Leben bezahlen.
Ratero lautet der gewöhnliche Ausdruck für die Taschen- und Gelegenheitsdieb*innen in Mexiko, die auf dunklen Straßen, in Metro-Stationen und häufig in den Kleinbussen auf schnelle Beute lauern. Das Wort geht zurück auf das Verhalten von Ratten, die stets auf der Suche nach Verwertbarem umherstreunen. Längst werden die Kriminellen mit ihnen gleichgesetzt, aus rateros wurden ratas. Die Ratten von Mexiko City.
Lynchjustiz in Mexiko als Folge sozialer Unzufriedenheit
Und immer mehr von ihnen bekommen nach vereitelten Überfällen den Zorn einer aufgebrachten Gesellschaft zu spüren. 43 Fälle von Lynchjustiz wurden laut dem CNDH-Bericht im Jahr 2015 verzeichnet, 2018 waren es schon 174. Weil nur die in Medien oder Polizeiberichten vermerkten Fälle in die Statistik einflossen, schätzten Expert*innen die tatsächliche Zahl noch höher ein. Der Ablauf ist in der Regel der Gleiche: Überführte Kriminelle, teils auch aufgrund von Gerüchten falsch Verdächtigte, werden von mehreren Personen gestellt, brutal attackiert und komplett ausgezogen, ehe die Polizei sie aufgreift. An der brutalen Revanche beteiligt sich oft, wer gerade in der Nähe und betroffen ist. Frauen, Männer, jung und alt, auch Videos lynchender Student*innen kursieren in den sozialen Netzwerken.

In ländlichen Gebieten gibt es häufiger auch Fälle, in denen Sicherheitskräfte zwar vor Ort sind, es aber nicht schaffen, die wütende Menge von ihrem Opfer fernzuhalten. In den Händen der Justiz, so die Befürchtung vieler, ist es für Dieb*innen anschließend deutlich angenehmer. Entsprechend stacheln sich auch bei Social Media die Nutzer*innen in den Kommentaren weiter auf, fordern keine Gnade mit den „Ratten“. Beliebte Kommentare mit Hunderten Likes verspotten dann die schwer Verletzten, bedauern ihr Überleben oder handeln davon, wie gerne man selbst einmal zugelangt hätte. Zumal bekannt ist, dass zwar gegen Kriminelle oftmals nicht hart genug vorgegangen wird, aber ebenso auch nicht gegen Personen, die sich an der brutalen „gesellschaftlichen Rache“ beteiligen.
Lynchjustiz in Mexiko: Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln als „Odyssee“
So ist aus einem gewaltigen sozialen Problem in den Metropolen und besonders in Mexiko City, der Unsicherheit in vielen Bereichen des öffentlichen Raums, ein zweites großes Problem entwachsen. War Lynchjustiz in den vergangenen Jahrzehnten oft nur vereinzelt mit einem Schnitt von landesweit 15 Fällen pro Jahr aufgetreten, stiegen die Vorkommnisse in der jüngeren Vergangenheit laut CNDH sprunghaft an. Früher hatte sich der Großteil der Fälle außerdem eher abseits der Öffentlichkeit im ländlichen Raum ereignet. Doch längst ist die Lynchjustiz in die Großstädte geschwappt.
Es ist der Ausdruck einer angestauten Wut nach über eine Dekade eines Krieges, der gegen das organisierte Verbrechen angekündigt worden war, aber Tausende Zivilisten das Leben gekostet hat.
Die linke Online-Zeitung „La Izquierda Diario“
Die Videos von Selbstjustiz und die Menge begeisterter Kommentare bestärken immer mehr Menschen in der Überzeugung, im Fall der Fälle selbst für Gerechtigkeit zu sorgen.
„Es hat sich durch Angst vor Überfällen zu einer Odyssee entwickelt, die öffentlichen Verkehrsmittel in diesem Land zu benutzen“, schrieb die Zeitung „El Financiero“ schon vor zwei Jahren in einem Artikel zur steigenden Zahl der Raubfälle, vor allem in Bussen. Mexiko Citys Bürgermeisterin Claudia Sheinbaum forderte damals öffentlich: „Wir müssen das Klima der Gewalt mildern.“ Immer mehr Verkehrsmittel in der Hauptstadt sind als erste Maßnahme inzwischen mit Kameras und GPS ausgestattet – für mehr Sicherheit, aber auch um Lynchjustiz auszubremsen.
Die Idee war gut gemeint, verfehlte allerdings ihre Wirkung: Denn die Videos landen früher oder später zumeist im Internet. Dort verstärken sie die Entwicklung eher, als sie zu regulieren. Szenen wie im Microbús am 31. Juli 2020 sind dadurch nicht mehr nur eine Randnotiz im Lokalteil der Zeitung, sondern virale Hits in den sozialen Netzwerken.
Nur wenige Tage nach dem Vorfall im Microbús vermeldeten Medien einen neuen Todesfall infolge von Lynchjustiz. Sheinbaum versprach daraufhin erneut, die Sicherheitsmaßnahmen etwa durch Einsatz der Nationalgarde weiter zu verstärken. Das entscheidende Ziel: Die Kriminalität und damit den Auslöser von Lynchjustiz bestmöglich in den Griff zu bekommen. „Wir müssen an dieser Verbesserung arbeiten, damit die Bevölkerung unter keinen Umständen derartige Aktionen ergreift“, sagte Sheinbaum.
Man sei selbstverständlich nicht damit einverstanden, dass in der Stadt oft auf brutale Art und Weise für „Gerechtigkeit“ gesorgt werde. Doch so sehr, wie sich die Entwicklung der vergangenen Jahre gefestigt hat, dürfte sie sich nur dann stoppen lassen, wenn Gewalt und Kriminalität für viele Menschen nicht mehr zu den großen Sorgen des Alltags gehören. Und bis dahin scheint es trotz aller Bekundungen noch ein weiter weg.
Beitragsbild: Béla Csányi / Facebook / Twitter / Instagram