Queere Repräsentation beim ESC
Ein Gastbeitrag von Sebastian Schmidt
Seit meinem zehnten Lebensjahr träume ich davon, auf der großen Bühne des Eurovision Song Contests (ESC) zu performen. Ich bin Basti und müsste ich mich zwischen Weihnachten und der ESC-Woche entscheiden, würde meine Wahl definitiv auf Zweiteres fallen. Meine Leidenschaft ging sogar so weit, dass ich 2018 als San Marinos Backing Vocalist beim ESC auftreten durfte und meine Masterarbeit über den größten Musikwettbewerb der Welt verfasst habe. Nun folgt ein weiterer Meilenstein in meiner Eurovision-Karriere: Ein Blog-Eintrag bei Populärkollektiv über die queere Repräsentation beim ESC – Here We Go!
10. Mai 2014 – 21:53 Uhr
Millionen Menschen auf der ganzen Welt sitzen vor dem Fernseher und warten gespannt auf Startnummer elf des alljährlich stattfindenden ESCs, als plötzlich der erste Akkord des österreichischen Beitrags ertönt. Im Hintergrund funkelt es in rot und im Scheinwerferlicht erscheint die Silhouette einer Frau. Die Kamera kommt näher und obwohl die Stimme für eine Frau deutlich zu tief erscheint, sind es vor allem das prunkvolle Abendkleid und die Haare, worauf die Aufmerksamkeit gelenkt ist. Doch irgendetwas ist anders. Als kurz vor Ende der ersten Strophe die Kamera in Portraitaufnahme stoppt und das Gesicht im Licht erscheint, wird zum ersten Mal der sehr dominante schwarze Bart sichtbar. Auf den ersten Blick ist dies eine ungewöhnliche Erscheinung. Conchita Wurst provoziert, polarisiert, schockiert und rebelliert mit ihrem Auftritt und wird dadurch mit dem Sieg belohnt, jedoch nicht ohne auch auf eine Menge Hass und Unverständnis zu stoßen. Trotzdem prägte die Drag Queen das Bild des Contests bis heute und gilt als absolute Ikone der queeren Community.
Euro… what?
Der Eurovision Song Contest gilt als größtes Musikfestival der Welt und zieht jährlich über 100 Millionen Zuschauer vor die Fernseher. Als am 24. Mai 1956 im schweizerischen Lugano der erste ESC stattfand und Lys Assia für das Gastgeberland den Sieg holte, war noch nicht abzusehen, dass der Contest mehr als 60 Jahre später noch immer zu den erfolgreichsten Fernsehshows der Welt zählt. Mittlerweile nehmen über 40 Länder am Contest teil – Darunter skurrilerweise sogar Australien.
Der ESC als „Gay-Olympics“?
Vor allem bei Mitgliedern der LGBTQI+ Community ist der Wettbewerb sehr populär und hat sich innerhalb dieser zu einem echten Kult-Event entwickelt. Insider bezeichnen es sogar als die „Gay Olympics“, weil es hier im Gegensatz zu den Olympischen Spielen und anderen Sportereignissen endlich einmal nicht um heteronormative Darstellungen geht und dadurch eben auch eine andere Zielgruppe angesprochen wird. Durch den Einsatz von Übertreibung und sogenannten „Camp-Elementen“ findet bei vielen Performances sogar eine Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und endlich auch eine Repräsentation von sexuellen Minderheiten zur Primetime statt!
Die erste Trans-Frau beim ESC
Als im Jahr 1998 die Transsexuelle Dana International mit ihrem Titel Diva den ESC für ihr Heimatland Israel gewann, schlug dies große Wellen in ganz Europa. Dana, die sich bereits fünf Jahre vor ihrem Sieg einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog, war zu diesem Zeitpunkt bereits ein großer Star in Israel. Der Sieg in der israelischen Vorentscheidung wurde jedoch europaweit stark diskutiert und einige forderten einen Boykott des Contests. Obwohl, oder vielleicht gerade deshalb, bis zum Ende niemand an ihren Triumph geglaubt hat, war dies der offizielle Beginn einer neuen Ära und Richtung des Contests. Ihr Auftritt stand für ein vermeintlich liberales, offenes Europa und vor allem Mitgliedern der LGBTQI+ Community sowie spätere Teilnehmer*innen des ESCs sahen den Auftritt als Bestätigung für jahrelange Bemühungen der Gleichberechtigung und Anerkennung.
Homosexuelle Inszenierungen
Ein Jahr zuvor nahm mit dem Isländer Páll Óskar bereits erstmals ein offen schwuler Künstler am Contest teil und erregte damals große Aufmerksamkeit. Bei seinem Auftritt war er stark geschminkt, trug eine glänzende Lackhose und wurde unterstützt von leichtbekleideten Tänzer*innen, die sich im Stile des Vogueings bewegten. Obwohl er mit seinem Auftritt nur auf Platz 20 landete, hinterließ er mit der sehr camphaften Inszenierung seines Liedes Minn hinsti dans (Mein letzter Tanz) vor allem in der LGBTQI+ Szene einen bleibenden Eindruck.
Drag Queens auf dem Weg an die Spitze
Die erste Drag Queen, die zwar nur als Tänzerin im Hintergrund fungierte, trat bereits im Jahr 1986 beim norwegischen Beitrag von Ketil Stokkan auf. Beim Song Romeo war hier ein Mitglied der erfolgreichen norwegischen Drag-Gruppe Great Garlic Girls in einem pompösen, aus dem 18. Jahrhundert inspirierten Rokoko-Kleid involviert. Dass eine Drag Queen gerade bei einem Lied eingesetzt wird, das nach der männlichen Hälfte des wohl berühmtesten Liebespaares der Literaturgeschichte, nämlich Romeo und Julia, benannt wurde, stellte hier einen deutlichen Bruch dar. Als erster Drag-Hauptact versuchte die slowenische Gruppe Sestreim Jahr 2002 ihr Glück und landete mit ihrem Auftritt im Stewardess-Kostüm und ihrem Lied Samo ljubezen auf dem 12. Platz.
Erfolgreicher lief es im Jahr 2007 für Verka Serduchka mit ihrem Lied Dancing Lasha Tumbai, die damit einen zweiten Platz belegte. Sie repräsentierte Camp wie kaum andere Künstler*innen vor ihr auf der ESC-Bühne. Unterstützt wurde sie bei ihrer Performance durch Tänzer*innen, die ebenfalls auffällig und geschlechtsunspezifisch gekleidet waren. Mit ihren parodistischen Auftritten ist Verka, die mit bürgerlichem Namen Andrii Danylko heißt, bereits seit den 1990er Jahren ein Star in Russland und ihrer Heimat, der Ukraine.
Der Triumph von Conchita.
Das aktuellste und wahrscheinlich bekannteste Beispiel für queere Repräsentation und Drag Queens beim ESC ist die Lady mit dem Bart, die im Jahr 2014 mit ihrem Lied Rise Like a Phoenix den Contest für Österreich gewann – Conchita Wurst! Nach ihrer Nominierung entwickelte sich Conchita sehr schnell zu einer Favoritin innerhalb der Eurovision-Community und auch die Wettbüros, die mit ihren Vorhersagen in den Vorjahren bereits einige Male richtig lagen, sahen sie ganz weit vorne.
Ihr Lied Rise Like a Phoenix erinnerte stark an James Bond Songs wie Goldfinger und Skyfall und fiel vor allem durch den dramatischen Charakter mit einem spektakulären Höhepunkt auf. Neben Conchitas makelloser gesanglichen Leistung des sehr bewusst komponierten Songs stieß auch die Inszenierung auf wohlwollende Reaktionen bei den Zuschauer*innen. Auf einem Podest steht Conchita in einem langen Abendkleid mit goldenen Stickereien verziert und erinnert dabei an große Diven. Ihre ausschweifenden Armbewegungen unterstreichen die langen, hohen Töne und die Flammen im Hintergrund, die sich zum Ende hin zu Engelsflügel entwickeln und Conchita quasi wie ein Phoenix aus der Asche steigen lassen. Doch all das wird überschattet durch ein äußerliches Merkmal, das die ganze Performance bricht – der Bart. Die gesamte Weiblichkeit, die im Auftritt mehr als deutlich dargestellt wird, erhält so eine weitere Bedeutungsebene.
Direkt nach der Verlesung aller Punkte wurde ihr die Trophäe überreicht und sie bedankte sich mit den Worten: „This night is dedicated to everyone who believes in a future of peace and freedom. You know who you are, we are a unity and we are unstoppable”. Das Zitat ging zusammen mit dem Bild der bärtigen Lady und ihrer Trophäe, die sie mit Tränen in den Augen in die Luft hielt, um die Welt und ist noch immer einer der bedeutendsten Momente in der Geschichte des Contests.
Nach ihrem Sieg nutze Conchita ihre Popularität außerdem, um sich für Toleranz und gegen Diskriminierung stark zu machen. So sprach sie vor dem EU-Parlament in Brüssel und im UN-Gebäude in Wien vor zahlreichen Politiker*innen und verbreitete in gewohnter Abendgarderobe ihre Werte: „Ich träume von einer Zukunft, in der wir nicht über sexuelle Orientierungen, Hautfarben oder religiöse Überzeugungen reden müssen“.
Doch noch immer sind nicht alle von Österreichs ESC-Sensation begeistert. Interessant ist ein Blick auf das Voting von Ländern, die noch immer als eher konservativ und homophob gelten. So wurde Conchita beispielsweise von den Juror*innen aus Armenien, Aserbaidschan und Weißrussland mit dem letzten Platz bestraft, während das Televoting-Ergebnis aus diesen Ländern jeweils eine Platzierung unter den ersten fünf vorsah. Die stärkste Ablehnung gibt es jedoch aus der Türkei, die seit 2013 nicht mehr am Contest teilnehmen und aufgrund von Künstler*innen wie Conchita eine Rückkehr in naher Zukunft ausschließen. Konkret sagt Ibrahim Eren, Chef des türkischen TV-Senders TRT, der Zeitung Hürriyet: „Ein öffentlich-rechtlicher Sender kann nicht um 21 Uhr live übertragen, wenn Kinder zuschauen, die dann einen Österreicher sehen, der gleichzeitig einen Bart und ein Kleid trägt und sagt, er habe kein Geschlecht, er sei Frau und Mann zugleich“.
Bereits ein Jahr zuvor weigerte sich der Sender das Finale auszustrahlen, weil die finnische Repräsentantin Krista Siegfrids bei ihrer Performance des Liedes „Marry Me“ eine andere Frau auf den Mund küsste.
Seitdem hat sich der ESC zu einem sehr LGBTQ-freundlichen Ereignis entwickelt, das Menschen aus allen Ländern Europas, unabhängig von deren Sexualität und Hintergrund zusammenbringt.
Auch in diesem Jahr bietet der ESC wieder eine ganze Menge an queerer Repräsentation. Mit der YouTuberin NikkieTutorials moderiert beispielsweise erstmals eine Trans-Frau den Wettbewerb.
Australien – Montaigne: Technicolor
Die Australierin Montaigne ist offen bisexuell und setzt sich in ihrer Heimat für LGBTQI+ Rechte ein. In ihrem Lied „Technicolor“ ermutigt sie die Zuhörer*innen, offen zu fühlen und zu lieben und die ganzen verschiedenen Farben unserer Gesellschaft zu feiern. Der erste Liveauftritt fand außerdem beim Sydney Gay and Lesbian Mardi Gras 2021 statt.
Irland – Lesley Roy: Maps
Die lesbische Sängerin Lesley Roy sollte bereits im Vorjahr ihr Heimatland Irland beim ESC vertreten. Damals lieferte sie mit „Story Of My Life“ eine absolute Pride-Hymne mit der Botschaft für Stolz und Selbstbestimmung. In diesem Jahr geht sie mit dem Liebeslied „Maps“ an den Start.
Schweden – Tusse: Voices
Der alljährliche Top-Favorit Schweden geht in diesem Jahr mit Tusse an den Start. In einem Interview mit dem LGBTQ+ Magazin QX verriet er erst kürzlich, dass er sich gegen die gesellschaftlichen Geschlechterrollen einsetze und nicht auf seine Sexualität reduziert werden möchte. Er verliebe sich nämlich nicht in ein Geschlecht, sondern in die Persönlichkeit eines Menschen.
Niederlande – Jeangu Macrooy: Birth Of A New Age
Die Niederlande gewann 2019 mit dem bisexuellen Sänger Duncan Laurence den ESC und fungiert in diesem Jahr als Gastgeber. Diesmal setzen sie auf den Soul-Sänger Jeangu Macrooy, der vor fünf Jahren seine homophobe Heimat Suriname wegen seiner Homosexualität verlies und mittlerweile in Amsterdam lebt. Über sein Lied „Birth Of A New Age“ sagt er selbst: „Das Lied ist eine Ode an jeden, der für sich selbst einsteht und sich traut, die Kraft seiner Authentizität zu feiern.“
Italien – Måneskin: Zitti E Buoni
Die Glam-Rock-Band Måneskin polarisierten beim italienischen Vorentscheid mit ihren hautengen und mit Glitzersteinen besetzten Ganzkörperanzügen und gewannen so das Ticket nach Rotterdam. Die vier Mitglieder bezeichnen sich als sexuell sehr offen und teilweise bisexuell und spielen bei ihren Performances immer wieder mit Androgynie.
Deutschland – Jendrik: I Don’t Feel Hate
Und wen schickt Deutschland? Der offen schwule Sänger Jendrik tritt mit einer glitzernden Ukulele auf und fordert die Zuhörer*innen in seinem Lied „I Don’t Feel Hate“ zu mehr Nächstenliebe und weniger Hass auf. Mal schauen, ob Deutschland damit den letzten Plätzen entkommt. (I doubt it!).
Der ESC hat sich über die Jahre hinweg zu einem weltweiten Phänomen mit einer großen Reichweite und dadurch einer hohen Relevanz entwickelt. Durch das liberale und offene Auftreten und die verschiedenen Darstellungsweisen von Geschlecht und Sexualität nimmt der ESC eine Vorreiterrolle ein und repräsentiert das, wovon die Gesellschaft noch weit entfernt ist. Teilweise nehmen beim ESC nämlich Länder teil, in denen Homosexualität noch tabuisiert ist und Andersdenkende ausgegrenzt und sogar verfolgt werden. Viele Betroffene in solchen Ländern sehen im ESC eine Möglichkeit der Identifikation und Legitimation ihrer Existenz.
Bild: Sebastian Schmidt