Ich weiß nicht, wie es euch geht, ich liebe Reportagen und gute Dokumentationen. Früher habe ich immer gedacht, dass man durch das Schauen allein so viel lernen kann. Sie zeigen fremde Orte, geheime Informationen oder man bekommt die wahren Fakten hinter einer Geschichte gezeigt. In meinem Studium habe ich dann oft erkennen müssen, dass eigentlich jedes Format keine hundertprozentig neutrale Erzählweise zeigt. Die gebotene „Realität“ zeigt oft eben nur einen Blickwinkel einer Geschichte und man muss genau hinschauen, um die Inhalte von Dokumentationen richtig einordnen zu können.
Zunächst etwas Nerdwissen:
Das Wort dokumentarisch leitet sich vom lateinischen Wort documentum ab, was so viel bedeutet wie Beweis. Ein Dokumentarfilm soll demnach eine These beweisen oder widerlegen. Dokumentarische Formate zeigen oft reale Lebensformen und arbeiten mit Menschen und dem tatsächlich vorgefundenen Geschehen, damit sie im direkten Verhältnis zur Wirklichkeit stehen.[1] Dokumentationen sollen ein Geschehen oder ein Thema in einen Kontext einordnen und dabei eine möglichst objektive Position einnehmen. Sie sollen sachlich informieren, ohne eine Bewertung. Die Wirkung von Dokumentarfilmen ist hauptsächlich vom Augenblick der Rezeption abhängig, denn der oder die Zuschauer:in gleicht immer wieder das Gezeigte mit dem eigenem Weltwissen ab, um die Informationen des Gezeigten zu überprüfen.[2] Also, wenn uns etwas Bekanntes gezeigt wird, gewinnt die Dokumentation an Glaubwürdigkeit und indem sie dieses Wissen mit zusätzlichen Hintergrundinformationen und Fakten füttert, steigert sie das Interesse.
Ist doch alles gefälscht
Eine der bekanntesten Dokumentationen, die mit dem Vorwurf der Fälschung kämpfen muss, ist Nanook of the North. In den Stummfilmaufnahmen begleitet Robert J. Flaherty den Eskimo Nanook bei seinem Alltag, der Robben- und Walrossjagd, Fischfang, dem Iglubau und der Kinderbetreuung. Neben schönen Naturaufnahmen wird auch die Härte des arktischen Lebens deutlich. Die Kritik an dem Film: Deroder die Filmemacher:in verdreht Tatsachen und stellt inszenierte Szenen als Realität dar. In dem er beispielsweise von den Eskimos verlangte, die Harpune, statt wie üblich das Gewehr, für die Jagd zu nutzen und keine westliche Kleidung zu tragen, bediente er sich nicht nur an fälschlichen, sondern auch stereotypischen Abbildungen.
100-prozentige Neutralität gibt es nicht
Auch wenn Dokumentarfilme Szenen zeigen, die auch ohne Kamera womöglich genauso stattgefunden hätten, oder sie Interviews mit Beteiligten aufnehmen, sind es Redaktionen, die subjektive Entscheidungen treffen, beispielsweise über den Kamerawinkel, die Wahl der Interviewpartner:in oder der Interviewfragen. Es sind immer Menschen an der Entscheidung beteiligt, welche Szenen in den Film kommen, welche Aufnahmen aufeinanderfolgen oder auch wie die Person vor der Kamera rüberkommt. Bei den Aufnahmen handelt es sich somit immer um eine Interpretation der Wirklichkeit, sie sind keine Dokumente der Wirklichkeit. Schon kleine Unterschiede beim Licht oder auch die Wortwahl des oder der Erzähler:in können darüber entscheiden, ob wir die Protagonist:innen sympathisch finden und ob wir der Story glauben oder nicht.
Tricks der Dokumentarfilmer:innen
#1 Mut zur Lücke
Anders als in Formaten wie dem Spielfilm oder Fernsehen werden beim Dokumentarfilm erzählerische Sackgassen, Abweichungen, überflüssige Details, Lücken in der Darstellung oder geringe Motivation der Akteur:innen für den Zuschauenden nicht als Mangel angesehen. Vielmehr machen diese Merkmale den Dokumentarfilm authentisch, denn gerade wenn der oder die Zuschauer:in Schwierigkeiten hat, das Gesehene in eine logische Geschichte zu formen, trägt das zur Glaubwürdigkeit bei.[3] Während die Massenmedien durch ihre zusammengeschnittenen und glatten Erzählungen mit Vorwürfen der Manipulation zu kämpfen haben, nutzt der Dokumentarfilm seinen Mangel an erzählerischer Logik, um sich selbst nicht als Mittel zur Kommunikation zu sehen. Der Dokumentarfilm will wie ein zufällig entstandenes Dokument wirken und sich bewusst absetzen.[4]
#2 Weniger ist mehr
In Dokumentarfilmen wird oft aus einer totalen Kameraeinstellung gedreht, bei der die Kamera statisch und kaum in Bewegung ist. Dadurch wird Distanz erzeugt und es entsteht der Eindruck einer neutralen Perspektive auf das Geschehen. Auf Musik oder eine Stimme aus dem Off wird oft verzichtet, nur die direkte Figurenrede und tatsächlich stattgefundene Geräusche stehen im Mittelpunkt.[5] Des weiteren sind im Dokumentarfilm Szenen beliebt, in denen wenig Handlung zu sehen ist, der Raum schlecht ausgeleuchtet ist und die Schauspieler:innen einfach nur da sind. Wenn es scheint, als sei keine Kamera anwesend, wirken die dargestellten Situationen so, als könnte in ihnen der unverstellte Mensch zu sehen sein.
#3 Hinter dem Vorhang
Der Bereich hinter einer Bühne ist beispielsweise im Theater oder bei Konzerten zur Entspannung gedacht. Schauspieler:innen können ihre Maske fallen lassen und aus der Rolle zu fallen. Die Dokumentarfilmkamera versucht mit ihrem Stil das Gefühl zu vermitteln, das Treiben hinter dem Vorhang zu zeigen. Um zu signalisieren, wer sich hinter der Rolle auf der Bühne, oder vor der Kamera versteckt, sind in Dokumentarfilmen beispielsweise Szenen beliebt, in denen die Darsteller:innen das Publikum wieder verlassen und hinter den Vorhang treten. Dabei muss es nicht immer eine Bühne geben. Auch Aufnahmen, die vermitteln, dass die Kamera nur nebenbei oder zufälliges filmt, gibt dieses Gefühl weiter. Durch die geringe Beachtung der Kamera seitens der Schauspieler:innen und dem Gefühl, die Darsteller:innen würden nicht nach Vorgaben handeln, vermittelt der Film, dass sich die Filmemacher:innen (vermeintlich) nicht in das Leben der Darsteller:innen einmischen.[6] Dabei sollte man sich fragen, ist es nicht viel unnatürlicher eine sichtbare Kamera zu ignorieren?
Dokumentarfilme können kein komplett authentisches Abbild eines Menschen, einer Situation oder einer Geschichte bieten, sie können lediglich die Aufnahmen so glaubwürdig wie möglich gestalten. Auch wenn diese Filme mit Inszenierungsstrategien arbeiten, um authentisch zu wirken, heißt das nicht, dass sie weniger glaubwürdig sind als andere Massenmedien. An dieser Stelle soll nur deutlich gemacht werden, dass Authentizität im Dokumentarfilm inszeniert werden muss, damit der oder die Zuschauer:in sie wahrnimmt.
Mein Dokumentarfilm-Tipps
- Letztes Jahr habe ich auf der Berlinale den Film Midnight Traveler von Hassan Fazili gesehen und war so beeindruckt, dass ich unter anderen diesen Film nun in meiner Masterarbeit analysiere. Es geht um eine Familie aus Afghanistan, die aufgrund einer Drohung der Talibans flüchten muss. Das Besondere an den Aufnahmen aus insgesamt drei Jahren Flucht: Die Familie filmt sich selbst mit drei Smartphones. Dadurch entstehen sehr persönliche und authentische Aufnahmen. Die Dokumentation gibt es gerade auf 3sat.
- Ein ganz anderer Film ist Wildes Herz von Charly Hübner über die Band Feine Sahne Fischfilet. Die Aufnahmen zeigen neben Probe- und Konzertaufnahmen sehr private Gedanken und Interviews. Mich hat vor allem der politische Weg der Band und des Leadsängers Jan Gorkow „Monchi“ zum Nachdenken und die Witze und das Necken zwischen den Freunden zum Lachen gebracht.
- Gerade noch sehr aktuell ist die Dokumentation Trump, meine amerikanische Familie und ich vom WDR. Ingo Zamperoni kennt man eigentlich aus den Tagesthemen, doch in diesen Aufnahmen zeigt er uns die Heimat seiner Frau und seiner Schwiegereltern, die USA. Wie gespalten das Land politisch ist und welchen Stellenwert Politik in einer Beziehung zwischen Freunden, Liebespaaren und Nachbar:innen hat, kommt ganz gut rüber.
- Zu guter Letzt eine Dokumentation über Agrarpolitik, wie die Entscheidungen in Brüsel gefällt werden und welche Rolle Lobbyismus dabei spielt. Die Doku Gekaufte Agrarpolitik spricht über die großen Fragen rund um nachhaltige, wie umweltfreundliche, wie regionale, wie tierfreundlich und preiswerte Landwirtschaft.
Das sind meine persönlichen und kurzen Gedanken zu Authentizität in Dokumentarfilmen und meine Filmtipps. Beide Listen könnte man definitiv noch ergänzen, falls ihr noch mehr zum Thema erfahren wollt, kann ich euch das Bücher Alles Doku – oder was? von Fritz Wolf und Authentizität im Dokumentarfilm von Christian Huck empfehlen. Vielleicht nutzt ihr ja den nächsten Filmabend, um zu sehen, ob euch ähnliche Tricks der Filmemacher:innen auffallen und was sie mit eurer Rezension machen.
[1] Vgl. Knut Hickethier (2012): Film- und Fernsehanalyse, S. 183.
[2] Vgl. Christian Huck (2012): Authentizität im Dokumentarfilm, S. 249f.
[3] Vgl. Christian Huck (2012): Authentizität im Dokumentarfilm, S. 258.
[4] Vgl. Christian Huck (2012): Authentizität im Dokumentarfilm, S. 258.
[5] Vgl. Wilma Kiener (1999): Die Kunst des Erzählens, S. 239.
[6] Vgl. Christian Huck (2012): Authentizität im Dokumentarfilm, S. 259.
Beitragsbild: Franzi Venjakob