Unzuverlässiges Erzählen und Rashomon

Egal, ob in Film oder Literatur, ich liebe das Motiv des unzuverlässigen Erzählens. Shutter Island, Fight Club, Memento, Prestige und Inception (ja, ich bin großer Nolan-Fan) sind Filme, die ich sehr mochte und das liegt besonders an einem: dem unerwarteten Twist. Auch Bücher wie Lolita (Vladimir Nabokov) oder Turning of the Screw (Henry James) haben mir gut gefallen, aber im Film mag ich das Motiv des unzuverlässigen Erzählens sogar noch lieber. Woran liegt das, wo mir doch Bücher eigentlich sonst immer besser gefallen als Filme? Und was hebt den Film Rashomon vom japanischen Regisseur Akira Kurosawa so von anderen Filmen mit unzuverlässigen Erzählern* ab?

Unzuverlässiges Erzählen im Film

Der Begriff erklärt sich zwar fast von selbst, aber eine kleine Definition lasse ich mir an dieser Stelle nicht nehmen. Unzuverlässiges Erzählen ist eine Form des Erzählens, bei der sich der Erzähler in irgendeiner Form als unzuverlässig erweist. Der Begriff wurde zum ersten Mal 1961 von dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Wayne Booth verwendet, obwohl der unzuverlässige Erzähler schon vorher in Literatur und Film zu finden war. Das unzuverlässige Erzählen ist eine Interpretationsstrategie der Rezipient*innen, da diese den Autor nicht nach der Unzuverlässigkeit des Erzählers fragen können. Die Rezipient*innen müssen sich diese selbst aus dem Text erschließen. Der Erzähler entlarvt sich also innerhalb der Geschichte entweder selbst, oder der Text gibt Anlass zu einem Verdacht auf seine Unzuverlässigkeit. Im Falle von unzuverlässigem Erzählen vermittelt der Erzähler den Rezipient*innen eine Botschaft, während der/die Autor*in versucht, ihnen eine andere Botschaft mitzuteilen.

Soweit so gut. Aber wie ist das im Film? Sagt die Kamera nicht die Wahrheit? Der größte Unterschied zwischen den Medien Roman und Film ist, dass im Film kein vergleichbarer Erzähler wie in der Literatur zu finden ist, da der Film nicht ausschließlich über Sprache kommuniziert. Obwohl die Kamera im Gegensatz zum Ich-Erzähler in der Literatur meist nicht durchgehend die Perspektive einer Figur einnimmt, kann sie trotzdem die Nähe zu einer Person suchen und sich so in ihren Wahrnehmungshorizont begeben. Das Spannende dabei ist das besondere Illusionspotenzial des Films. Das, was auf dem Bildschirm zu sehen ist, nehmen wir Zuschauer*innen anders als das, was nur vom Erzähler beschrieben wird, meist als gegeben auf. Wir trauen dem, was wir sehen, mehr als dem gesprochenen Wort. Deshalb (Spoiler für Fight Club!) zweifeln wir die Freundschaft zwischen den beiden Männern in Fight Club auch nicht an – zumindest anfangs nicht. Filme können mich mehr in die Irre führen als Bücher, weshalb ich das Motiv des unzuverlässigen Erzählens in Filmen mehr genießen kann.

Akira Kurosawas Rashomon

Kommen wir nun zu dem Film, über den ich eigentlich sprechen möchte. Während das unzuverlässige Erzählen im Film in den späten 90ern eine Hochphase hatte und auch in den 2000ern unter anderem durch Nolan nicht an Popularität verloren hat, erschien Rashomon von dem japanischen Regisseur Akira Kurosawa bereits 1950. Der Film war der Erste, der maßgeblich dazu beigetragen hat, das japanische Kino für westliche Zuschauer*innen berühmt zu machen und wird auch heute noch als Meilenstein der Filmgeschichte betrachtet. An dieser Stelle spreche ich eine Spoilerwarnung aus: Wer den Film lieber unvoreingenommen sehen möchte, sollte jetzt aufhören zu lesen.

Schon der Aufbau der Erzählung in Rashomon ist ungewöhnlich. Es gibt eine doppelte Rahmensituation und dadurch zwei Interpretationssituationen innerhalb der Handlung. Zu Beginn werden drei Charaktere eingeführt: Der Holzfäller, der Mönch und der Bürger. Der Holzfäller erzählt dem Bürger von seinen Erlebnissen in der Anhörung eines vermeintlichen Mordfalles, bei welcher der Mönch ebenfalls anwesend war. Die Anhörung wird als Rückblende gezeigt. Innerhalb dieser Anhörung sagen die drei bei dem Mord anwesenden Menschen – der Bandit, die Frau und der Samurai – durch zum Teil durch ein Medium, zu dem Mordfall aus. Die Ereignisse, die jeweils von den Erzählern geschildert werden, werden ebenfalls in Rückblenden gezeigt. Die zweite Handlungsebene vor Gericht wird vom Holzfäller und vom Mönch erzählt. Die dritte Ebene im Wald wird abwechselnd vom Banditen, von der Frau und dem Samurai und später nochmal vom Holzfäller erzählt. Ganz schön verworren also. Der Aufbau der doppelten Rahmensituation führt dazu, dass die ganze Geschichte noch unzuverlässiger wird, als sie durch die drei Zeugenaussagen sowieso schon ist. Die Anhörung, die den Hauptteil der Geschichte ausmacht, ist bereits eine Rückblende und somit eine Interpretation des Holzfällers von dem, was passiert ist.

Eine Besonderheit Rashomons gegenüber vielen anderen Filmen mit unzuverlässigen Erzählern ist, dass wir es nicht nur mit einem, sondern gleich mit vier potenziell unzuverlässigen Erzählern zu tun haben. Innerhalb der Gerichtsverhandlung bekommen die vier Personen, die beim Tod des Samurais anwesend waren, die Möglichkeit, die Geschehnisse aus ihrer Sichtweise darzulegen. Die Versionen der Geschichte, die sie vor Gericht zum Besten geben, widersprechen einander stark. Wir sehen die drei verschiedenen Versionen filmisch, ohne dass es einen Hinweis darauf gibt, an welcher Stelle die Unwahrheit gesagt wird. Die einzelnen Versionen werden via Voice-Over erzählt und auf der Leinwand sehen wir ausschließlich das, was der Erzähler beschreibt, also die subjektiven Wahrnehmungen der jeweiligen Figur.

Während der ersten Erzählung des Holzfällers, wie er die Leiche des Samurais im Wald fand, gibt es noch keinen Grund für uns, seine Geschichte anzuzweifeln. Auch die Erzählung des Banditen akzeptieren wir erst einmal so, da wir noch keine Unstimmigkeiten erkennen können und da die Positionen am Anfang einer Erzählung meist privilegiert werden. Weil wir der Kamera glauben wollen, nehmen wir das filmisch gezeigte als Wahrheit auf. Erst als die Frau ihre Version der Geschichte erzählt, wird uns bewusst, dass wir es hier mit unzuverlässigen Erzählern zu tun haben, was zu einem Überraschungsmoment führt. Der Twist, den die meisten Filme mit unzuverlässigen Erzählern haben, kommt in Rashomon also schon relativ früh. Obwohl zweifelhaft bleibt, ob man es überhaupt „Twist“ nennen kann, denn es wird hier nicht die Wahrheit offenbart, sondern nur die Tatsache, dass die Charaktere wahrscheinlich lügen.

Warum lügen die Charaktere? In Rashomon ist die Antwort auf die Frage nicht schwer zu erraten. Die Charaktere befinden sich vor Gericht und sprechen mit einem Richter, der sich hinter der Kamera befindet, im Bild also nie zu sehen ist. Die Intention der Figuren ist deutlich: Jeder Charakter möchte so positiv wie möglich wirken. „Jeder zeigt sich selbst im besten Licht“, sagt auch der Bürger zum Holzfäller und zum Mönch. Er hat es erkannt.

Jetzt habe ich erklärt, wie unzuverlässiges Erzählen im Allgemeinen und im Besonderen bei Rashomon funktioniert, aber was mag ich daran eigentlich so? Es ist die Teilhabe, die man als Zuschauer*in an dem Film hat. Auch wenn man nicht wie bei Rashomon schon früh weiß, dass es sich um unzuverlässiges Erzählen handelt, beinhalten solche Filme meist eine Vielzahl narrativer Rätsel. Filme und Romane mit unzuverlässigen Erzählern sind immer sehr stark auf uns Rezipient*innen ausgerichtet, denn es geht darum, wie wir das Rätsel um den Erzähler lösen. Die Filme fordern uns also heraus. Sie fordern uns auf, aufmerksam zu sein, mitzurätseln, den Erzähler zu durchschauen -und wenn man dies nicht schafft, das Aha-Erlebnis zu genießen und den Film danach mit anderen Augen zu sehen.

Rashomon ist außerdem besonders, weil die Zuschauer*innen hier eine außergewöhnliche Rolle einnehmen, denn sie werden von gleich zwei Charakteren repräsentiert. Der Bürger, den der Mönch und der Holzfäller am Anfang des Films am Rashomon-Tor treffen, ist der Charakter, dem die ganze Geschichte auf der ersten Ebene erzählt wird. Auch er lauscht vier Versionen der Geschichte, ohne, dass er selbst ein Teil dieser ist und auch er wird von der Neugierde getrieben, die Wahrheit herauszufinden. Er sagt zum Mönch, dass er gerne eine gute Geschichte hören möchte, sein primäres Ziel ist also – wie unseres – die Unterhaltung. Er deutet das Zeichen der Unzuverlässigkeit des Holzfällers, den fehlenden Dolch, und entlarvt ihn so, wie es auch aufmerksame Zuschauer*innen tun könnten. In der zweiten Handlungsebene nimmt der Zuschauer die Perspektive des Richters ein, der nie im Bild gezeigt wird. Wir finden uns also in der Situation wieder, den Wahrheitsgehalt der Aussagen abzuwägen und die Charaktere selbst zu verurteilen und zu entscheiden, wem wir mehr glauben und wem weniger. Dass im Film kein Urteil gesprochen wird, erweitert unsere Freiheit noch mehr, da wir unser eigenes Urteil fällen können.

Und wer, wie ich, beim ersten Schauen des Films dachte: „Wow, ich bin gespannt, wie es aufgelöst wird“, wird enttäuscht: anders als andere Filme mit unzuverlässigem Erzähler, gibt es keine eindeutige Auflösung. Kurosawa animiert also den Zuschauer so dazu, seine eigene Interpretation in den Film einfließen zu lassen und sich ein eigenes Ende zu konstruieren. Hat einer der Protagonist*innen die Wahrheit gesagt? Oder ist die Wahrheit eine Mischung aus allen vier Geschichten? Gibt es womöglich gar keine objektive Wahrheit, da alle vier Charaktere die Ereignisse subjektiv wahrgenommen haben oder bestimmte Teile der Geschichte verdrängen? All das ist möglich. Ich für meinen Teil möchte die Frage gar nicht final beantworten und komme bei jedem weiteren Schauen des Films zu einem anderen Ergebnis. Wenn ihr euch aber doch eine Interpretation von jemandem anschauen wollt, der denkt, das Rätsel gelöst zu haben, empfehle ich dieses Video von wolfscrow:

Was denkt ihr? Hat Rashomon eine Auflösung? Und was ist euer liebster Film mit unzuverlässigen Erzählern?

*Mit Erzähler meine ich hier natürlich Erzähler und Erzählerinnen. Da es sich aber um einen feststehenden Fachbegriff handelt, habe ich diesen Begriff nicht gegendert.

2 Gedanken zu “Unzuverlässiges Erzählen und Rashomon

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