„Worauf jeder Mensch überall ein Recht hat, und was so schwer zu finden ist: Heimat.“
Vor einigen Tagen ist mal wieder Twitter explodiert. Auslöser: Die Forderung von Philipp Amthor nach einer Neuauflage der Debatte um die deutsche Leitkultur. Hallo? Ich schließe mich da an: Kann ihn bitte jemand ins Jahr 2000 zurück bringen? Nach Thüringen und Hanau kommt der CDU – Bundestagsabgeordnete doch ernsthaft jetzt damit um die Ecke. Die deutsche Leitkultur als Maßstab für die Integration. Aus der bereits in den 2000ern aufkommenden Debatte, die zwischendurch immer mal wieder aufflammte, ist nie etwas geworden. Es war auch nie so richtig klar, was das nun eigentlich sein soll. „Sollten jetzt alle Bundesbürger und solche, die es werden wollen, Schillers „Glocke“ auswendig lernen? Sollte für jeden Haushalt eine schwarz-rot-goldene Fahne ausgehändigt werden? Und wer bestimmt eigentlich, was Leitkultur ist?“ (M.Northe) Vor knapp zwei Wochen ist der Sammelband Eine Politik für morgen erschienen. Der erste Beitrag von Amthor. Ich verfalle direkt in den „Das darf doch wohl nicht wahr sein“-Modus. Und ich finde: zurecht! Amthor beschreibt die Probleme der Integration unter anderem damit, dass er darauf verweist, dass es eben nicht nur „bunte Multikulti-Straßenfeste“ gibt, sondern Parallelgesellschaften, Familienclans und andere „dunkle Nebenstraßen“. Mit dem Begriff der deutschen Leitkultur geht ein primitiver Ausdruck von Integration einher. Es gibt nun mal nicht die eine deutsche Kultur. Kulturen sind konstruiert. Sie bilden nie eine in sich geschlossene Einheit sondern sind grundsätzlich hybrid. Genau diese Hybridität macht es sinnlos von einer deutschen Leitkultur zu sprechen.
Haris auf der Suche nach Heimat und Identität
Mir fällt Haris ein, der Protagonist aus dem Dokumentarfilm HIER UND DORT. Er ist in Dresden geboren und aufgewachsen, bekommt aber keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Für ihn stellt sich die Frage: Wo gehört er dazu? Was ist seine Heimat, seine Kultur? Das Filmporträt zeigt wie abstrus die Vorstellung einer deutschen Leitkultur ist.


©Roman Schlaack
„Wenn die sagen: ‚Ey woher kommst du?‘ Ich sag immer zuerst: ‚Ja aus Bosnien.‘ Und danach sage ich: ‚Aber ich bin hier in Dresden geboren. Aber ich bin aus Bosnien.‘ Sage ich immer so. Warum sollte ich sagen wenn mich jemand fragt: ‚Woher kommst du?‘, wieso sollte ich sagen: ‚Ich bin Deutscher?‘ Wieso? Das hat nichts damit zu tun weil ich nicht stolz bin, weil ich einen auf Kanake machen will oder so sondern es hat damit was zu tun, dass die mich gar nicht hier wollen. Wenn ich hier abgeschoben werde, wenn die mich hier nicht wollen, wenn die versuchen, mein Leben kaputt zu machen, nicht nur meins, von meiner Mutti auch, wenn das so ist, o.k., dann bin ich kein Deutscher.“
Haris, Hauptprotagonist aus HIER UND DORT (Bettina Renner, D, 2018)
Mit diesen Worten des fünfzehn jährigen Haris eröffnet der Dokumentarfilm von Bettina Renner. Zu sehen ist ein Touristenschiff auf der Elbe. Auf der Schiffswand in großen Buchstaben: „Dresden“. Haris wurde in Dresden geboren, geht dort zur Schule, hat dort seine Freunde, seine Familie. Vor 23 Jahren ist seine Mutter Semsada vor dem Krieg im damaligen Jugoslawien nach Deutschland geflohen. Alle drei Monate müssen sie und Haris ihren Aufenthaltsstatus verlängern lassen. Sie leben in ständiger Unsicherheit. Für Haris stellt sich die Frage was seine Heimat ist. Deutschland? Obwohl er dort keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis bekommt? Oder Bosnien, die Heimat seiner Mutter? Je größer Haris Frust über die unsichere Situation in Deutschland wird, desto mehr besinnt er sich auf seine bosnisch-montenegrischen Wurzeln. Was ursprünglich als Dokumentation über das Erwachsenwerden eines Teenagers angedacht war, wurde zur Geschichte einer Suche nach Heimat. Eine Suche, die sich alles andere als einfach gestaltet. Georg Seeßlen schreibt in seinem Artikel Menschenbilder der Migration über den Balanceakt von Migrant*innen in zwei Kulturen und wie dieser von Filmemacher*innen beschrieben wird. Von der Schwierigkeit seine eigene Identität zu definieren, seine Heimat zu finden, sind auch und besonders die nächsten Generationen der Migrant*innen betroffen. Gefühle von Fremdheit, die Frage nach Zugehörigkeit sind oftmals zentrale Motive. In Haris Worten spiegeln sich diese Fremdheitsgefühle wieder. Als Zuschauer*in kann man die Angst und Unsicherheit der Familie deutlich miterleben. Die bewegungslos abgefilmten kargen Flure der Ausländerbehörde im Neonlicht wirken fremd und beklemmend. Der Gang dort hin ist Routine, eine Routine, die Semsada zum zittern bringt und Haris‘ Frust und Hoffnungslosigkeit wachsen lassen. „26 Jahre hier in Deutschland und bis jetzt haben die geredet und überlegen was die jetzt machen.“ Haris fühlt sich „dazwischen“ – zugleich hier und dort. Auf zermürbende Art und Weise wird ihm eine Heimat verwehrt. Doch Kulturen sind keine separierten Einheiten (Sorry Philipp!) Würden wir offener mit dieser Tatsache umgehen, würden sich viele Konflikte für Menschen in Kulturen der Metissage, Menschen wir Haris, in Luft auflösen.
Das Kino der Metissage von Fatih Akin
Wer hier sofort auf den Radar gerät, ist einer meiner Lieblingsfilmemacher: Fatih Akin. Er wurde als Sohn türkischer Einwanderer in Hamburg geboren und hat mit seinem Film GEGEN DIE WAND (D, 2004) sämtliche Dichotomien aufgehoben. Er stellt sich den Zuweisungen von deutsch – türkisch etc. entgegen. „Ich sehe es als Vorteil, in zwei Kulturen aufgewachsen zu sein: Das gibt mir Sicherheit. Ich muss weder eine Botschaft der Toleranz rüberbringen, noch eine meiner Kulturen verleugnen. Ich verbinde sie einfach. In meiner Person und in meinen Filmen.“ (Fatih Akin). Er vereint die unterschiedlichen Einflüsse, sodass die Ausgangspunkte letztlich keine Rolle mehr spielen.
Georg Seeßlen entwirft den Begriff vom Kino der Metissage. Als Kultur der Metissage versteht er eine Kultur der Mischung mit unklaren Grenzen und in steter Bewegung. „Métissage – das heißt: Unterwegs sein, von der alten zur neuen Kultur, aber auch wieder zurück, heißt zugleich Nebeneinander und Ineinander, heißt zugleich Verstellung und Kenntnis.“ (Seeßlen).
Akin schafft in GEGEN DIE WAND dieses Neben- und Ineinander. Er verbindet, wie er es selbst sagt. So zeugt er einen neun Raum der Wahrnehmung für ein mögliches Verständnis der Individuen und deren Verhalten, welches nicht auf Herkunft oder kultureller und nationaler Zugehörigkeit fußt. Das Kino der Metissage ist ein Kino zwischen den Kulturen. „[Es] fragt nach den einzelnen Geschichten, nach den Biografien, die nicht mehr als Gleichnisse und nicht mehr als moralische Parabeln herhalten müssen, […] sondern ihr Recht als unvergleichliche Lebenswege beanspruchen.“ (Seeßlen).
Wohin kann der Mensch aus der Kultur der Metissage gehen?
GEGEN DIE WAND erkundet die Fragen nach der Identität durch Sibel, die in Hamburg geboren wurde und türkische Eltern hat und Cahit, der aus der Türkei kommt und in Hamburg lebt. Dabei wird ihr Leben ohne die binären Kategorien porträtiert. Die Frage, die für sie auftritt, ist nicht einfach die, ob sie türkisch oder deutsch sind, sondern mehr, wer sie als Individuum sind. Kultur steht dabei nicht als einziges identitätsbestimmendes Merkmal vor dem Subjekt.
Sibel performt beispielsweise unterschiedliche kulturelle Codes. Als Nico, eine nächtliche Bekanntschaft aus einem Club, sie aufsucht, um sie zurückzugewinnen, macht sie ihm klar, dass sie nur etwas mit ihm anfing, um herauszufinden, wie er im Bett sei. Als Nico nicht von ihre ablässt, schreit sie ihn an: „Ich bin eine verheiratete Frau. Ich bin eine verheiratete türkische Frau und wenn du mir zu nahe kommst, bringt mein Mann dich um, kapiert?“. Sie tritt hier sowohl nach westeuropäischem Diskurs als emanzipiert auf, als auch die traditionell, türkische Ehemoral wieder spiegelnd. Als ihre erste Aussage keine Wirkung erzielt, nutzt sie einen anderen kulturellen Code. Sie spielt dabei gleichzeitig mit Vorurteilen gegenüber der türkischen Ehe. Sibel weiß sich gegen die, durch Kultur und Gesellschaft vorgeschriebenen, normativen Verhaltensregeln mit deren eigenen Waffen zu wehren. Um ihre Identität zu kreieren sucht sie sich aus, weder deutsch, noch türkisch zu sein, sondern alle Elemente um sich herum zu nutzen.
Wohin kann der Mensch aus der Kultur der Metissage gehen? Beinahe überall hin, sagen die Filme von Fatih Akin. Und so sind Sibel und Cahit in ihrer Hybridität keine Opfer. Ihre Suche nach der eigenen Identität ist oftmals brutal und gewaltsam, dennoch werden sie nicht als hilflose Betroffene dargestellt. Fatih Akin zeigt die Kulturen nicht als parallel zueinander verlaufend, sondern als Hybride. So entstehen neue Diskussions- und Bewusstseinsräume.
Deutsche Leitkultur – please not!
Es gilt die starren Positionen zu überkommen. Kulturen sind keine homogenen, separierten, ganzheitlich und territorial gebundenen Einheiten. So sollte nicht von „typisch türkisch“, „typisch deutsch“ etc. die Rede sein. Identität fußt nicht allein auf einer Kultur. Wenn Horst Seehofer in Anbetracht der wachsenden Migrantenanzahlen die deutsche Leitkultur in der Verfassung verankern will (S. Beck), Thomas de Maizières darauf hinweist diese deutsche Leitkultur würde sich unter anderem durch eine offene Gesellschaft äußern, die Gesicht zeigt und nicht Burka (Zeit) und Philipp Amthor im Jahr 2020, nach NSU-Aufdeckung und zunehmendem rechtsextremistischem Terrror die Leitkulturdebatte zurückholen will, dann befinden wir uns im Schwarz und Weiß der Dichotomie fern einer ambivalenten, diskursiven Strategie, die den Raum zur produktiven Diskussion eröffnet. Eine deutsche Leitkultur gibt es nicht, ganz zu Schweigen davon, dass die Offenheit unserer Gesellschaft nicht in geschlossenen Äußerungen wie „Wir zeigen Gesicht, nicht Burka“ entsteht. Das Konzept der Hybridität provoziert die Zuschreibungskataloge von Fremd und Eigen. Es impliziert eine Grenzenlosigkeit, die sich gegen den des Heimatkults stellt und genau den sieht Amthor ja als geeignetes Mittel im Kampf gegen Populismus. Wie schon zu Beginn erwähnt, bringt ihn ins Jahr 2000 zurück. Meine Bitte wäre noch: Lasst ihn dort!
Die Doku Hier und Dort gibt es übrigens in der TV Fassung WAS HEIßT HIER HEIMAT? von zweimal 30 Minuten im Youtube Kanal von MDR DOK zu sehen.
Weitere Quellen:
Bundeszentrale für politische Bildung -Das Missglückte Wort, Der Freitag – Vertraute Fremde , NTV – Amthor möchte neue Leitkultur-Debatte, Süddeutsche Zeitung – Schützt den Schweinebraten