Bildung ist wichtig und beeinflusst den Lebensweg eines Menschen. Diese Aussage würde wohl jeder unterschreiben. Doch wie wichtig ist die Schulbildung für unser Zusammenleben und welchen Rang hat sie in Deutschland? Hat jeder die gleiche Chance auf Bildung in Deutschland? Was können wir machen, um sie zu verbessern? Muss man etwas verbessern? Diese Fragen hat Grünen-Parteichef Robert Habeck den Buchautor Aladin El-Mafaalani in Köln bei der Vorstellung für das Buch Mythos Bildung gefragt. Die Antworten waren sympathisch, anschaulich und leicht verständlich, ein paar von ihnen wollen wir euch nicht vorenthalten. Die folgenden Punkte sind allerdings nur ein Teil, der von Aladin El-Mafaalani angesprochenen Themen.
Es scheint fast so als könnte man jede Krise auf der Welt auf die Schulbildung zurückführen. Doch das Problem ist nicht die Bildung selbst, behauptet Aladin El-Mafaalani. Es sind vielmehr die Bildungschancen, die u. a. von der sozialen Herkunft und den familiären Bedingungen abhängen. Das ist schon immer so gewesen und hat sich bis heute nicht verändert. Das heutige Schulsystem in Deutschland bewertet der Buchautor als gar nicht so schlecht, mit der Schulnote zwei minus. Was ihn jedoch vielmehr Sorgen bereitet sind die Folgen der heutigen Ungleichheit, die teilweise schon bestehen, bevor das Kind in die Schule geht, und diese sind abhängig vom Habitus. Der Begriff Habitus legt nach dem Soziologe Bourdieu fest, was ein Mensch denkt, welches Verhalten für ihn selbstverständlich ist, welches schwer vorstellbar ist oder unmöglich erscheint. Der Habitus bestimmt außerdem, welche Wahrnehmungskategorien der Mensch besitzt, welche Gewohnheiten, Vorlieben er hat und sein auftretendes Sozialverhalten.
Das Bildungsparadox
Um seine Gedanken zu verdeutlichen, nutzt El-Mafaalani die Metapher eines Tisches: Früher saß der Großteil der Menschen auf dem Boden, nur ein kleiner Teil hatte das Privileg am Tisch zu sitzen und durfte den Weg der Gesellschaft mitbestimmen. Heute sitzen am Tisch immer mehr Menschen. Bildungswege sind offen für Frauen, Homosexuelle oder Menschen mit Migrationshintergrund etc. Das Paradoxe dabei: Gleichzeitig wird es heute immer schlimmer nicht an dem Tisch sitzen zu dürfen. Denn für die Gesellschaft sind die Menschen abseits des Tisches diejenigen, die es nicht geschafft haben und die daran auch noch selber schuld sind. Damit hat sich das Verhältnis zwischen den Schichten verändert. Bildung ist nicht nur der Grund für die unterschiedlichen Sitzplätze, sondern auch die Legitimation Menschen in Gruppen zu teilen. Dieser Doppelcharakter von Bildung muss gesehen werden, denn am Ende hat das auch was mit Macht zu tun, erklärt El-Mafaalani.
Die Bildungsexpansion
Eine weitere Beobachtung El-Mafaalanis bezieht sich auf das Bildungsniveau, das in der Gesellschaft in den letzten Jahren steigt. Es werden immer mehr Abschlüsse gemacht, es gibt mehr Abiturient*innen und die Kompetenzen steigen. Diese positive Veränderung verursacht jedoch nicht, dass die Ungleichheit sich verringert, was man vielleicht erst vermuten würde. Das Gegenteil ist der Fall. Besonders deutlich wird das durch ein Beispiel: Wenn man von allen das Gehalt verdoppeln würde, haben alle mehr Geld, aber der Unterschied unter den Menschen hätte sich ebenfalls verdoppelt.
Wenn man für alle die Chancen erhöht, dann erhöht man auch für alle die Unterschiede.
(Aladin El-Mafaalani)
Doch wie verringern wir die Unterschiede? Durch ein besseres Schulsystem? El-Mafaalani bestreitet, dass es allein darüber gelingt. Er hat sich lange mit dem Thema Bildung beschäftigt und es als Vater, Lehrer und Professor für Erziehungswissenschaft von vielen Seiten kennengelernt. In Dortmund Nord, einem sozialen Brennpunkt, ist ihm aufgefallen, dass die Stadt sehr viel Geld und Zeit betrieben, um das Schulsystem zu unterstützen und damit langfristig die Stadt aufzuwerten. Ersteres ist gelungen, doch die Folge der vielen guten Abschlüsse war, dass viele der Schüler*innen ein Studium oder einen Job außerhalb der Stadt annahmen. Durch den Abzug der Jugendlichen, der Bevölkerungsabnahme wurden die Wohnungen durch die fehlenden Nachfragen billiger, was folglich immer mehr ärmere und bildungsschwächere Familien anzog. El-Mafaalani erzählt, ihm habe ein Dortmunder einmal scherzhaft gesagt, man könne in dieser Gegend sein Kind aus dem Fenster werfen, es sei schon ein Streetworker (von vielen) in der Nähe, der es auffange. Auch wenn das Publikum in Köln über die zugespitzte Anekdote lacht, wird an dieser Stelle die hilfsbedürftige Situation in den ärmeren Stadtvierteln deutlich.
Aktuell werden in der Schule Ungleichheiten eher verschärft als abgebaut.
(Aladin El-Mafaalani)
Wenn also das Schulsystem nicht die Ungleichheiten verringern kann, wer dann? Es sind nicht die Lehrer*innen, stellt El-Mafaalani fest. Die können neben dem Schulstoff, selbst wenn sie wollen nicht auf alle Schüler*innen und ihren individuellen Wissenstand und Habitus eingehen. Außerdem sind sie nicht dafür ausgebildet, allen Schüler*innen, zeitgleich die bestmögliche Unterstützung zu bieten. Deshalb gibt es in El-Mafaalanis Traumvorstellung neben der Bildung noch eine zweite Säule, die sich in der Laufbahn der Schüler*innen um ihre individuelle Förderung kümmert und die Chancenungleichheit bekämpft. Menschen, die speziell dafür ausgebildet werden und sowohl in der Schule als auch bei den Kindern zuhause sich dafür einsetzt, dass die Voraussetzungen für alle gleich sind. Wie genau diese Arbeit aussieht, bleibt an diesem Abend offen. Dieser Gedanke erinnert an Systeme, die es heute schon in der Schule gibt, wie Beratungslehrer*innen oder Sozialarbeiter*innen. Ist diese Idee dann noch neu? El-Mafaalani ist mit seiner Sichtweise vielleicht nicht revolutionär, schafft es aber die gegenwärtige Situation an Schulen anschaulich denjenigen näherzubringen, die sich zuvor weniger mit dem Thema Bildung beschäftigt haben.
Was nach diesem Gespräch zwischen Robert Habeck und dem Soziologen hängen bleibt ist, dass das Schulsystem in seiner jetzigen Form Unterstützung braucht und der Unterschied zwischen den Menschen am Tisch und außerhalb des Tisches immer größer wird. Um dies zu ändern, muss das Bewusstsein für die Chancenungleichheit erweitert werden und den Lehrer*innen ihr eigener und der Habitus ihrer Schüler*innen bewusst sein. Doch Aladin El-Mafaalani ist ein Optimist und steckt damit das Publikum in Köln an.
Beitragsbild: Franziska Venjakob