Ein Hass-Liebes-Brief

Mein lieber Cliffhanger,

lass uns gleich zur Sache kommen: Du machst mich verrückt! Du hältst mich nächtelang wach! Deinetwegen habe ich tausend offene Fragen und meine Gedanken drehen sich im Kreis. Vielen Dank für all die schlaflosen Nächte und Augenringe! Und das alles nur, weil ich nicht loslassen kann. Ich brauche dich! Du bist ein fester Anker im qualitativen Aufbau von Geschichten. Ohne dich wäre es langweilig. Ohne dich würde es keinen Spaß machen. Ohne dich wären Medienrezeptionen fast schon vergeudete Zeit. Du bringst Spannung und Aufregung hinein. Du schleichst dich schon immer im Laufe der Erzählung im Hintergrund an, aber zum Schluss schlägst du richtig zu. Du bringst Veränderung in Handlungen ein, die so niemand vorhersehen konnte.

Auf der einen Seite bekomme ich nicht genug von dir. Du ziehst mich in deinen Bann, lässt mich nicht los und packst mich emotional. Du erzeugst Spannung und bringst mein Herz dazu, schneller zu schlagen. Auf der anderen Seite lässt du mich hängen, mich zappeln und in mir tausend Fragen ungeklärt. Du startest jedes Mal aufs Neue ein Gedankenkarussell in meinem Kopf.

Du verfolgst immer das gleiche Prinzip – deine Masche funktioniert: Du hörst am spannendsten Punkt auf – brichst am spannendsten Punkt ab – und lässt mich alleine und fragend zurück. All die Dinge, die ich nun wissen möchte, gibst du mir erst in der nächsten Folge, dem nächsten Film, Band oder Kapitel. Ich bin dir hilflos ausgesetzt. Du hast die Macht, einfach abzubrechen. Und ich? Ich stehe da und baumle am Abgrund. Du bist der schlimmste Schurke, der Bad Boy unter den Erzähltechniken!

Aber weißt du was: Ich kann trotzdem nicht genug bekommen. Du machst mich so unglaublich neugierig. Du hörst genau dann auf, wenn sich alles in mir dreht und wendet. Wenn Gut zu Böse und Böse zu gut wird. Wenn die Welt kurz vor dem Abgrund steht oder plötzlich Personen eine Rolle spielen, die ich gar nicht auf dem Schirm hatte. Ich habe also gar keine andere Wahl als weiterzumachen und mich deiner miesen Taktik hinzugeben. Ich befinde mich in einem Hamsterrad aus Gefühlen und kann nicht aufhören ständig weiter zu konsumieren. Den Trick hast du doch von der Chips-Industrie 😉 gib es zu! Da kann ich auch nie aufhören.

Und dafür hasse und liebe ich dich zugleich. Ohne dich wäre es langweilig. Mit dir wird es aber auch unmöglich abzuschalten und aufzuhören. Und das Schlimmste: Es gibt dich überall! Serien, Filme, Romane – eigentlich bist du in jeder Medienform vertreten. Du bist immer dann vorhanden, wenn Geschichten spannend werden.

Und du bist ganz schön alt! Das wusste ich gar nicht, dass du schon seit 1873 die Menschen plagst! Im Roman „Blaue Augen“ von Thomas Hardy tauchst du das erste Mal auf. Daher hast du auch deinem Namen. Du hast die Leser*innen zurückgelassen mit einem Protagonisten, der am Steilhang hing und sich nur noch an einen Grasbüschel klammerte, um nicht herunter zu stürzen – und dann: Aus und vorbei… Fortsetzung folgt… wie es weiter geht, kam erst im nächsten Roman raus.

Durch Streaming-Formate hast du bei mir aber ein absolut neues Level erreicht. In Zeiten des linearen Fernsehens musste ich eine Woche auf die neue Folge warten und hatte keine andere Möglichkeit als wieder auszuschalten. Mit Serien auf Netflix und Co., die zu jeder Zeit als ganze Staffeln abrufbar sind, wird es immer schwieriger loszulassen. Die Geschichten wollen weitererzählt werden. Ich will wissen, wie es weiter geht. Ich will meine Neugier stillen und rezipiere weiter. Nur um dann zu merken, dass du nach dem nächsten Erzählstrang wieder auftauchst und das gleiche Spiel von vorne beginnt. Das Resultat: Ein niemals enden wollendes Hamsterrad aus Geschichten.

Aber: Hör bitte niemals auf! Bleib wie du bist! Lass mich in diesem Flow aus Spannung zurück. Ich brauche dich. Also lass mich am Abgrund hängend mit Fragezeichen zurück. Ich finde schon den Weg zurück, um mich dann an der nächsten Steilwand wieder auf dich verlassen zu können.

Deine Valeska

Bildquelle: Unsplash/@huchenme

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