Nischenthema Zeichentrick-Dystopien
Starten wir mit einem interaktiven Part: Wer möchte sich gründlich über die geologischen Begebenheiten der Uckermark informieren? Der kann sich hier umschauen. Mir persönlich hat es der „Umlandtransparenzregler“ angetan. Ein Tool, mit dem man seine Nachbarn einfach im 7%-Sichtbarkeits-Nirvana verschwinden lassen kann, würde ich mir im Real Life auch manchmal wünschen. In diesem Artikel werden allerdings leider keine Bodenproben erläutert oder Reliefkarten analysiert. Hier geht’s um Zeichentrick-Dystopien, das ist ähnlich nischig und wie ich finde, auch sehr interessant. Alle, die durch diese schrecklich komplizierte Einleitung jetzt noch nicht die Lust am Lesen verloren haben, sollten für die restliche Schlammpackung Popkultur gewappnet sein. Als Zuckerli für Zwischendurch kann ich schon mal eine Menge an Beispielvideos versprechen, die auf jeden Fall ein gewisser Ausgleich zu meinem Gedankenkrautsalat sein sollten. Ich zumindest hatte großen Spaß, mir während den Recherchen meine Lieblings-Zeichentrick-Dystopien noch zwanzig mal mehr anzuschauen.
Meine Faszination für Zeichentrick generell kommt sicher zum Teil daher, dass animierte Geschöpfe und Welten fast keine Grenzen kennen. Das Limit ist die Einbildungskraft der Künstler*innen. Im Prinzip hat auch der „normale“ Schauspielfilm inzwischen mit CGI und Special Effects ähnliche Freiheiten. Es geht aber nicht nur um die grenzenlose Erfindbarkeit von Dingen. Jeder Zeichentrick hat seine eigene Stilisierung. Die Stimmungen und Gefühle, die unter anderem darüber ausgedrückt werden, sind oft noch einprägender als das fotorealistische CGI-Paradies.
That Said… Will ich mich einer ganz spezifischen Unterkategorie von Trickfilm widmen: Dystopischer Zeichentrick. Dystopien, also negative Zukunftsentwürfe, sind in der Popkultur der letzten Jahre omnipräsent. Ob man die Tribute von Panem liest, Fallout spielt oder The Day after Tomorrow sieht, überall ist der Blick in die Zukunft eher düster und pessimistisch. Und natürlich ist auch der Zeichtrick da keine Ausnahme. Meiner Meinung nach funktionieren Dystopien im Zeichentrick besonders gut, weil alles prinzipiell Erfindbare (also auch negative Zukunftsentwicklungen) dargestellt werden kann und zudem die dystopisch-pessimistische Stimmung durch den künstlerischen Stil ausgedrückt werden kann. Das heißt nicht, dass es im Realfilm nicht möglich ist. Ich finde, es gibt sogar einige gute Beispiele, wie Blade Runner, in denen auch mit starken Stilisierungen gearbeitet wird. Und natürlich kann kein Sci-Fi-Artikel geschrieben werden, ohne zumindest einmal die ikonographische Steilvorlage schlechthin zu erwähnen: Metropolis, ein Film, der schon 1927 wusste, dass die Zukunft definitiv Straßen auf der 34. Etage eines Bürogebäudes beinhaltet. Ich freue mich schon auf den Moment, in dem ich mit meinem alten Citroen Berlingo auf Augenhöhe an dem Vorstandstreffen der Deutschen Bank vorbeifahren darf.
Die Mutter aller dystopischen Zeichentrickfilme: AKIRA
Wenn ich über dystopischen Zeichentrick schreibe (oder überhaupt über Zeichentrick ganz generell), dann führt kein Weg vorbei an „AKIRA“. Der 1988 erschienene Anime von Katsuhiro Ōtomo spielt im Jahr 2019 (ja, das ist dieses Jahr) in einem nach einer Bombenexplosion wieder aufgebauten Neo-Tokyo. Die Straßen sind unsicher, es gibt Demonstrationen, korrupte Politiker, gewalttätige Jugendliche und generell eine Menge fragwürdiger Gestalten. Die ganze Geschichte dreht sich vor allem um Kaneda und Tetsuo, die zwei Mitglieder einer Motorradgang. Und dann ist da natürlich noch die verhängnisvolle Macht AKIRA.
AKIRA hat zu seinen Zeiten eingeschlagen wie eine Bombe. Er machte Anime erstmals im Westen populär und lieferte viele stilprägende Bilder für nachfolgende Generationen von Sci-Fi-Dystopien. Besonders bekannt ist unter anderem das VHS-Cover, auf dem Kanedas rotes Motorrad zu sehen ist.

Ich habe AKIRA tatsächlich erst vor Kurzem auf Netflix gesehen und bin schon fast traurig. Ein bisschen bedauere ich mein früheres Ich dafür, den Film nicht bereits gekannt zu haben. Der fein ausgearbeitete Zeichenstil, die extrem flüssigen Animationen und der Blick in existenzielle Abgründe vor der Kulisse der Neu-Tokyoter Skyline sind wirklich einprägsame Szenen.
Was mir zudem aus heutiger Perspektive sehr positiv aufgefallen ist: Der Film hat einen Soundtrack mit eher volkstümlichen Elementen, sehr percussionlastig und mit verschiedenen Chorgesängen. Während zeitgenössische Cyberpunk-Dystopien oft mit stark Synthie-betonten, flächigen Düstermelodien unterlegt sind, überrascht hier der Vorfahre mit einem gar nicht mal so eindeutig düsteren Score. Interessanterweise sind die musikalischen Grundstrukturen aber nicht traditionell-japanisch, sondern computergeneriert-balinesisch. Die Musik gibt diesem Film somit eine ganz eigene Note, die ihn noch mal von anderen Zeichentrick-Dystopie abhebt. Das ist übrigens auch etwas, was AKIRA mit dem mittlerweile durch verschiedene Neu- und Realverfilmungen bekannt gewordenen Ghost in the Shell gemeinsam hat. Ohne Ghost in the Shell bis jetzt in voller Länge gesehen zu haben spreche ich mich schon mal ganz deutlich für die ursprüngliche Anime-Version von 1995 aus.
Fandom um AKIRA
Auch wenn AKIRA in letzter Zeit scheinbar etwas an direkter Präsenz eingebüßt hat, sind überall die Spuren des Films zu finden. Die Fans des Films sind oft selbst passionierte Künstler. Ein bekennender Aficionado von AKIRA ist zum Beispiel Kanye West. Das merkt man unter anderem an seinem Musikvideo zu „Stronger„, das gespickt ist mit Referenzen auf den Anime. Die Fanliebe produziert teilweise auch skurrile Auswüchse wie ein von Fans produziertes Crossover der AKIRA-Charaktere mit denen der Simpsons.
AKIRA hat nicht nur auf Kanye West Eindruck gemacht. Zum Beispiel sind auch in diesem beeindruckenden Musikvideo zu dem Track „Anvil“ des Producers Lorn eindeutig Einflüsse des Films zu sehen. Bestätigt hat diese Referenz das verantwortliche Künstler-Duo GERIKO auf der Illustrationsplattform It’s Nice That. GERIKO besteht aus einem Franzosen und einer Belgierin, deren Visuals sich jüngst auf einem Shirt von Kendall Jenner wiederfanden (#iconic). Popkultur, ick liebe dir!
Die dunkel-schwummerige Synth-Wave-Musik von Lorn passt so gut zu Anime-Dystopien, dass ein Fan-Zusammenschnitt von dem Track „Sega Sunset“ mit Yoshiaki Kawajiris „Running Man“ von 1987 wirkt wie eine offizielle Kollaboration. „Running Man“ gehört zu einem dreigeteilten Film namens „Neo-Tokyo“, bei dem jeder der drei Abschnitte von einem unterschiedlichen Regisseur geleitet wurde. Einer der beiden anderen Regisseure ist Katsuhiro Ōtomo. Wer sich japanische Namen noch nicht so gut merken kann: Das war der von AKIRA.
Das ikonographische Erbe von AKIRA
Einer meiner musikalischen Lieblings-Grenzgänger ist der Jazz- und Hip-Hop-Avantgardist Flying Lotus. Er selbst erklärt in einem YouTube-Kommentar unter dem Musikvideo zu seinem Song „More“, dass Shinichiro Watanabe, der Regisseur hinter dem Video, ein von ihm lang vereehrter Anime-Künstler ist.
Watanabe gehört zu den Animatoren, die die Körper ihrer gezeichneten Figuren gern auf groteske Weise verformen und sich im Raum ausbreiten lassen. Und woher kennen wir das? Richtig, aus AKIRA!
Apropos, grotesk verformende Körper. Es gibt da noch ein ganz spezielles Video des französischen Animators Jérémie Périn, das mich beim ersten Sehen dermaßen über den Haufen warf, dass ich das bis heute nicht vergessen werde. Zugegebenermaßen, das Sujet ist ziemlich… explizit und verstörend. In diesem Fall hat das Video zu Recht eine Altersbeschränkung und kann deshalb nur direkt auf YouTube angesehen werden. Aber zusammen mit der verträumten Musik des französischen Produzenten DyE verdreht sich der Body Horror irgendwie zu einem fast schon spirituellen Seherlebnis. Kein Wunder, dass das Video ein virales Phänomen war mit über 49 Millionen Views in den ersten zwei Jahren.
Und ganz zum Schluss hab ich dann noch eine honorable mention, die zwar zum Thema gezeichnete Dystopien passt. Aber der Einfluss von AKIRA oder japanischen Anime ist hier nicht mehr wirklich nachzuweisen. Am ehesten könnte man noch die tentakelbesetzte Handprothese als visuelle Referenz auf Tetsuos Monster-Hand deuten. Das sonstige ikonografische Bezugsmaterial von Will Sweeney und Steve Scott scheint eher biologische Abbildungen von Schwämmen gemischt mit einer Farbpalette der Siebziger Jahre zu sein. Nichtsdestotrotz ein Musikvideo, dass auf meiner mentalen Festplatte seit dem ersten Kontakt eingraviert ist.
BIRDY NAM NAM – THE PARACHUTE ENDING from Steve Scott on Vimeo.
Falls einer von euch sich bis hierhin durchgekämpft hat und sich jetzt denkt: Hmm da wäre mir sogar eine geologische Erörterung der Uckermark lieber gewesen. Denen kann ich dann nur sagen: Selber Schuld! Die Uckermark ist sicher ein liebliches Stückchen Erde. Aber ich wette, sie inspiriert eher weniger zu fantasievollen Ausflügen in das bedrohliche Neo-Tokyo. Wobei, wie wäre es denn mal mit einer Analyse von AKIRA aus geologischer Sicht? Genug Bodenproben in Form von Bombenschlagsplittern gibts zumindest am Ende auf jeden Fall zu sehen. Hm ja jetzt wo ich es mir so überlege… Also ich bin dann mal an meinem Schreibtisch. Und so lange ich mir Notizen mache, könnt ihr ja noch hier ein wirklich allerletztes Video schauen. Das Analysieren der visuellen Referenzen überlasse ich jetzt mal euch.
Akira war damals schon faszinierend. Ich hab ihn zweimal im Kino geschaut, später dann die VHS – Cassette gekauft und heute steht die DVD im Regal 🙂
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@Wortman Cool, dann bist du sozusagen Zeitzeuge! Ich hoffe, dass Akira noch ein paar mehr Fans bekommt, jetzt wo er (zumindest im Moment noch) auf Netflix verfügbar ist.
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Aber sowas von Zeuge. Hab sogar Alien, Blade Runner und Blues Brothers im Kino angeschaut…damals 😂
War damals total geil, Akira im Kino zu sehen. Sachen wie Macross, Ghost in the Shell, Battle Angel Alita, Nausicäa usw. hab ich später alle auf VHS geschaut. Meine Töchter hab ich mit dem Manga- und Animevirus auch infiziert 😁😁
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