Warum wir unsere parasozialen Konstrukte mal wieder reflektieren sollten

Wir müssen über Influencer:innen reden. Und über unseren Umgang mit ihnen.

Wenn ihr wie ich zu den Menschen gehört, die chronisch online und auf Social Media unterwegs sind, dann kommt man wohl nicht drumherum, viel über fremde Menschen zu wissen – teils mehr, als man will. Wir bauen dann sogenannte parasoziale Beziehungen auf: Man hat das Gefühl, eine Person zu kennen, und daraus ergibt sich eine emotionale Bindung. Dabei hat man die Person im realen Leben noch nie getroffen, keinen individuellen Kontakt zu ihr gehabt und im Gegenzug weiß sie nichts von deiner Existenz. Ich glaube, dass der Einfluss, den Influencer:innen auf ihre Fans und Follower:innen und auch deren Leben haben, immer noch gerne unterschätzt wird. Ich glaube aber auch, dass das Gegenteil ebenso stimmt, und von vielen überschätzt wird, welchen Stellenwert eine Person in der Gesellschaft hat, bloß weil sie den im eigenen Kosmos einnimmt.

Das Internet vergisst nicht und doch sehr schnell

In meinem letzten Beitrag habe ich über das ganze Drama um Kate Middleton berichtet. Erwartbar spielt das in meinen Feeds nun kaum noch eine Rolle, das Internet ist weitergezogen. Das gehört nun auch dazu, dass Themen im Internet sich maximal ein paar Wochen halten und dann kommt der nächste Aufreger, der die Aufmerksamkeit fordert. Je nach dem, in welchen Algorithmen und in welcher Bubble man sich befindet, können diese Themen sehr unterschiedlich sein. Und auch ihre Schlagkraft für Wirkung im eigenen Leben kann sehr differieren. Darum ist es dann oft schwer nachvollziehbar, dass eine Geschichte, die in der eigenen Online-Welt sehr viel Raum einnimmt, bei anderen nur ein Achselzucken hervorruft.

Wenn das Schweigen bricht am Beispiel AnniTheDuck

Mein heutiger Aufhänger für die Gedanken in diesem Beitrag ist darum AnniTheDuck, ihres Zeichens eben YouTuberin/Streamerin/Cosplayerin/Influencerin. Und entweder seufzt ihr jetzt wahrscheinlich, weil ihr wisst, worum es geht, oder ihr zuckt eben nur mit den Achseln, weil ihr noch nie von dieser Person gehört habt. Und ich möchte sie heute auch wirklich nur als Aufhänger nutzen und nicht tief in die ganze Geschichte einsteigen. Und man kann sehr tief hier einsteigen. Denn seit Vorwürfe gegen AnniTheDuck von ihrer ehemaligen besten Freundin, ihrer Ex-Freundin, ihren Ex-Mitarbeitenden und weiteren im Raum stehen, haben sich unglaublich viele Menschen damit beschäftigt. Es geht unter anderem um emotionalen Missbrauch, Bodyshaming, Rufmord, Tierquälerei und die Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Person. Wenn ihr den Namen einmal in die YouTube-Suchleiste eingebt, dann findet ihr ungefähr für Tage nicht mehr aus den Videos mit Reaktionen und Analysen heraus. Und ja, ich habe ein paar dieser Videos geschaut. Und ja, ich bin auch sehr froh, dass ich meinen Algorithmus danach ganz schnell offenbar mit genug anderen Sachen gefüttert habe, sodass das Thema wieder aus meinen Vorschlägen verschwunden ist. Aber warum habe ich das überhaupt gemacht? Warum habe ich Zeit und Aufmerksamkeit in eine Person investiert, die nichts mit mir zu tun hat, und deren mutmaßlich missbräuchliches Verhalten anderen Personen gegenüber, auch nichts mit mir zu tun hat?

In meiner Phase, in der ich mich sehr viel mit Streamer:innen beschäftigt habe, ist mir AnniTheDuck untergekommen, aber wirklich interessiert habe ich mich für sie nie und ihren Content auch nicht geschaut. Ich habe daher auch keinerlei parasoziale Beziehung zu ihr. Meine Faszination für die aktuellen Geschehnisse kommt, glaube ich, eher, erstens von meiner Faszination für Gossip, zu der ich hier auch stehen muss, und zweitens einem Interesse für die Zusammenspiele von Menschen, Medien und Gesellschaft (aus irgendeinem Grund habe ich ja nun auch Medienkulturwissenschaft studiert).

Falls ihr es euch geben wollt, hat Rezo – als ebenfalls selbst involviert – die ganze Thematik hier sehr ausführlich aufgearbeitet. Disclaimer: das Video ist nur als Überblick hier exemplarisch eingefügt und man sollte natürlich den stärker Betroffenen wie Mowky oder Reved direkt zuhören, statt über sie zu sprechen, da geht es dann aber ab ins Rabbithole.

Als die Diskussion aufbrandete, entstanden aus einem Livestream, in der man der Streamerin Mowky eindrücklich ansehen kann, wie es einfach emotional aus ihr herausbricht, als eine Frage zu viel nach Anni sie triggert, kam in meinen Feeds tatsächlich nur vereinzelt etwas an. Aber in der deutschen Streamer:innen/YouTuber:innen/Influencer:innen-Szene muss offenbar die Hölle losgebrochen sein. Von den Skandalen, die ich so in den letzten Jahren in dem Bereich mitbekommen habe, hatte ich selten das Gefühl, dass so schnell den Betroffenen geglaubt wurde und sich so viel mit ihnen solidarisiert. Das ist ja erstmal eine gute Entwicklung. Aber – und da bin ich nun nicht die erste, die diese Beobachtung macht – es ist doch auch interessant zu sehen, wie nun der Umgang ist, wenn zum ersten Mal eine Frau in der Größenordnung als Täterin angeprangert wird vs. der Umgang mit den Männern, die (teilweise gerichtlich) erwiesenermaßen in den letzten Jahren als Täter entlarvt wurden.

Von der Person hätte ich das nicht gedacht…

YouTuberin Sashka sagt dazu in ihrem neuen Video, dass es vielleicht eher darum geht, dass das Personen sind, von denen wir so etwas nicht erwartet haben und es deswegen solche Wellen schlägt. Womit wir wieder bei der Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Person sind. Wahrscheinlich ist da viel dran, aber ich finde, das schließt sich ja gegenseitig nicht aus. Was sagt es denn über die Gesellschaft aus, dass es uns nicht überrascht, dass der als prolliger Macker inszenierte YouTuber sexuell übergriffig ist, während die süße YouTuberin in aufwendigen Kostümen schockt, wenn sie des Missbrauchs bezichtigt wird? Das ist doch auch patriarchale Zuschreibung vom Feinsten. Der eine bekommt daher weiter die Aufmerksamkeit seines Publikums, weil man sowieso nichts anderes erwartet hat, und gegen die andere stellt man sich fast geschlossen und fordert die Konsequenzen. Letzteres ist natürlich absolut gerechtfertigt und ich finde es toll zu sehen, dass sich so mit den Betroffenen solidarisiert wird. Aber macht das doch auch bei den anderen!

Natürlich geht es hier um Zielgruppen und ab wann Fans die Unterstützung entziehen. Wenn das Bild, das man von einer Person hatte, zerstört wird, dann ist es schwer, damit einen Umgang zu finden. Das gilt on- und offline. Nur sind wir da wieder bei dem Aspekt, dass, auch wenn es sich vielleicht anders anfühlen mag, wir Personen des öffentlichen Lebens eben nicht persönlich kennen. Enthüllungen, wie die rund um AnniTheDuck, haben somit einen starken Einfluss auf die parasoziale Beziehung, die zu solchen Influencer:innen aufgebaut wurde, und wie bei jeder Beziehung hat dies dann Einfluss auf unser Selbst.

Es bleibt kein Einzelfall

Im Zuge der ganzen Diskussion um AnniTheDuck habe ich auch immer wieder gehört, dass es sich auch dabei nicht um einen Einzelfall handelt. Wahrscheinlich überrascht es leider nicht, dass es weitere große Influencer:innen gibt, die Dreck am Stecken haben und die bisher nicht benannt wurden. Gerade bei den aktuellen Entwicklungen wurde auch wieder darauf hingewiesen, warum das so ist, dass Menschen sich nicht äußern und nicht in die Öffentlichkeit gehen – was in die Öffentlichkeit gehört, ist natürlich nochmal eine ganz andere Frage, die ich an dieser Stelle mal ausklammere. Eindrücklich fand ich etwa, was Aljosha Muttardi im Lästerschwestern-Podcast (meine wöchentliche Dosis Gossip im medienkulturwissenschaftlichen Interesse) erklärt hat: Wenn du ein Thema publik machst und jemanden etwas bezichtigst, dann bist du erstmal Aggressor:in. Du bringst ein Thema in die Öffentlichkeit und involvierst somit andere. Man kann nicht sicher vorhersehen, welche Wellen das schlagen wird und wie die Menschen reagieren. Es ist ja eher ungewöhnlich, dass die Stimmen, die den Betroffenen Glauben schenken, so laut sind und die, die nach der Unschuldsvermutung und zwei Seiten schreien, eher leise.

Was macht es mit uns, wenn Menschen anprangern oder angeprangert werden?

Ich glaube daher, dass es wichtig ist, sich über das ganze Konstrukt der parasozialen Beziehungen zu Influencer:innen Gedanken zu machen. Was macht es mit uns, wenn jemand, den wir gut finden, als Täter:in von Missbrauch angeprangert wird? Was macht es mit uns, wenn jemand, den wir gut finden, sich als Überlebende von Missbrauch zu erkennen gibt und jemand anderen an den Pranger stellt? Was ist der Unterschied, wenn es sich dabei um Personen handelt, die ich persönlich kenne, oder um eine, die ich nur glaube zu kennen durch ihre mediale Präsenz? Das sind Fragen, die nicht erst seit #metoo relevant sind und auf die es auch keine einheitliche Antwort geben kann. Gerade deswegen fühlen wir uns auch bei Themen, die eigentlich nichts mit uns direkt zu tun haben, so emotional involviert und fallen ins Rabbithole. Viele machen sich auch die Aufmerksamkeit bei einem Skandal, wie bei AnniTheDuck, zunutze, um Aufmerksamkeit von sich weg oder auf sich selbst zu lenken. Ich glaube daher, dass man nicht unterschätzen sollte, wie real sich auch parasoziale Beziehungen anfühlen, und was eine Erschütterung mit uns anstellt. Es kann uns allen daher nur guttun, wenn wir hin und wieder reflektieren, welchen Einfluss welche Menschen auf unser Leben auch haben. Und sei es nur, wem man seine Zeit und Aufmerksamkeit schenkt.

Beitragsbild: Unsplash/Kelly Sikkema

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