Wisst ihr viel über den Vietnamkrieg (1955 bis 1975)? Bis auf das viel verbreitete Bild des Mädchens nach dem Napalmbomben-Angriff, war mein Wissen bis dato doch sehr begrenzt. Bis zu diesem Buch: Die Autorin Khuê Phạm schafft es, in ihrem fiktionalen Roman nicht nur viele historische Ereignisse, sondern auch persönliche Geschichten zu behandeln. Das Buch wühlt auf und ist dabei trotzdem sehr gut zu lesen. Ich konnte es zum Schluss gar nicht mehr weglegen.
Um was geht es?
Kiều ist 30 Jahre alt, in Berlin geboren und aufgewachsen. Sie lebt und arbeitet bis heute dort. Ihr Name ist angelehnt an eine Figur der vietnamesischen Literatur. Doch weder ihre deutschen Freund*innen noch andere können den Namen richtig aussprechen. Sie nennt sich deshalb einfach Kim. Als Deutsche wird sie in ihrem eigenen Heimatland nicht gesehen, vietnamesisch fühlt sie sich aber auch nicht. Wie oft habe sie sich gewünscht, in einer Familie aufzuwachsen, die nicht erst deutsch werden musste, sondern es einfach schon war. Sie ist auf der Suche nach Heimat und Identität.
Bei meinem letzten Vietnambesuch haben mich viele für eine Ausländerin gehalten, nicht für eine Vietnamesin. Ich muss gestehen, das hat mich gefreut.
Protagonistin Kiều in „Wo auch immer ihr seid“
Mit dem Tod ihrer Großmutter und einer Nachricht ihres Onkels Son aus Kalifornien beginnt die Reise in ihre eigene Familiengeschichte, und sie fängt an, sich intensiv mit den historischen Geschehnissen in Vietnam auseinanderzusetzen. Neben Kiều berichten auch ihr Vater Minh und ihr Onkel Son von den Erlebnissen. Dabei unterteilt sich das Erzählte in drei Zeitabschnitte: Kiều berichtet über das aktuelle Geschehen der Gegenwart – nämlich der Familienzusammenkunft nach vielen Jahren zur Testamentseröffnung ihrer Großmutter in Kalifornien -, ihr Vater über die Zeit während des Krieges und sein Studium Ende der 1960er-Jahre in Berlin. Die Erzählungen des Onkels Son beginnen mit dem Ende des Vietnamkrieges und dem Beginn der kommunistischen Regierung sowie seinem Fluchtversuch.
Wie viel wahre Geschichte steckt im Roman?
Die Autorin Khuê Phạm arbeitet als Journalistin für das ZEITmagazin. Sie schreibt, wie sie selbst sagt, am liebsten über Menschen, die etwas anders sind. Bereits im September 2021 erschien ihr Roman – seit März 2023 gibt es „Wo auch immer ihr seid“ auch als Taschenbuch.
Auf den ersten Blick gibt es zahlreiche Parallelen zwischen der Romanfigur Kiều und der Autorin Khuê. Nicht nur die ähnlich klingenden Vornamen, sondern auch das Alter und den Beruf der Journalistin haben beide gemein. Am Ende des Romans wird die Protagonistin sogar dazu aufgefordert, ihre Geschichte als Roman zu schreiben. Ist der Roman also eine Autobiografie? Khuê Phạm verneint dies in einem Interview mit der TAZ. Sie habe eine neue Familie erfunden und wollte keine Dokumentation nur über ihre Familie schreiben. Sie wollte den Leser*innen etwas mitgeben, was über ihre Familie hinausgehe. Sie habe aber viele Erfahrungen aus dem Familien- und Bekanntenkreis übernommen. Das Buch leiste auch einen Beitrag zur Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte. Nach dem Vietnamkrieg war Khuê Phạm’s Familie zersplittert und auch bis heute sprechen sie nicht viel über die Vergangenheit.
Ähnlich wie in Deutschland. In vielen Familien schreibt sich die Geschichte fest, ohne dass darüber gesprochen wird.
Khuê Phạm im Interview mit der TAZ
Für Khuê Phạm war der Roman ein guter Anlass, um mit ihrer Verwandtschaft über persönliche Erlebnisse zu sprechen. Gemeinsam mit ihren Eltern war sie in Vietnam und den USA, wo weitere Familienmitglieder leben. Zusammen haben sie sich auf Spurensuche in ihrer eigenen Familiengeschichte begeben und über viele Dinge gesprochen, die so noch nie thematisiert wurden. Hinter all den fiktionalen Schilderungen steckt also auch eine (oder mehrere) wahre Geschichte(n) – aber es ist eben nicht Khuê Phạm’s private Familiengeschichte.
Mein Fazit
Das Buch ist absolut lesenswert. Es erschüttert und ermutigt zugleich. Mich haben die schrecklichen Erlebnisse der vietnamesischen Familien während des Krieges und danach bewegt. Viele Familien haben alles verloren und wurden auseinandergerissen. Jahrelang bestand kein Kontakt. Die Geschichte hat aber auch viel Ermutigendes und Hoffnungsvolles: Die Familie findet wieder in Kalifornien zusammen und schafft es, wenn auch in kleinen Schritten, über das Vergangene zu sprechen und emotional zueinander zu finden. Die Autorin schafft es, die Erzählungen über verschiedene Zeitebenen spannungsvoll miteinander zu verknüpfen und eine berührende Geschichte zu erzählen.
Wer einen Vorgeschmack auf die ersten Seiten haben möchte, kann sich diese Leseprobe anschauen:
Beitagsbild: Valeska
