Protest-Ästhetik in Musikvideos

In letzter Zeit sind mir mehrere Parallelen zwischen verschiedenen Musikvideos aufgefallen, die sich in irgendeiner Weise auf das Thema Protestkultur beziehen. Weil die Videos aber sehr unterschiedliche Ansätze wählen, wollte ich die mal in den direkten Vergleich stellen und mir anschauen, was der jeweilige Kontext ist. Dementsprechend stellt diese Auswahl an Musikvideos in diesem Artikel keinen vollständigen oder umfassenden Überblick dar. Aber schon im Vergleich dieser einzelnen Schlaglichter zeigen sich ganz verschiedene Einsatzarten von Protest-Ästhetik, die ich euch hier vorstellen möchte.

Protestsongs = Protestvideos?

Protestkultur und Musik stehen in einer engen und wechselseitigen Beziehung. Singen ist dabei nicht nur für die Unterhaltung der Protestierenden gedacht, es fördert auch das Gemeinschaftsgefühl und kann als Kommunikationsmittel für die jeweilige Kritik der Protestbewegung fungieren. Die musikalisch-historische Perspektive von Protestsongs ist ziemlich gut beschrieben. Zum Beispiel schreibt Bridgett Henwood auf Vox über die reiche Geschichte an US-amerikanischen Protestsongs. Und Klaus Walter analysiert auf Fluter, wieso es Protestsongs vielleicht nicht mehr so leicht haben wie noch vor einigen Jahrzehnten. Mir kommen bei dem Thema direkt Songs wie „Strange Fruit“ über die Lynchmorde an Schwarzen in den Südstaaten oder das „Masters of War“ von Bob Dylan und die damit verbundene, kriegskritische Anti-Establishment-Bewegung der 60er Jahre in den Kopf. Es gibt aber nicht nur eine musikalische Tradition, sondern auch eine visuelle Kultur zu Protest und Bürgerunruhe.

Aus den Nachrichten kennen wir die Aufnahmen von vermummten Protestierenden, brennenden Autos und Polizeibarrikaden. Sie stecken tief drin in unserem visuellen Gedächtnis. Wenn über Proteste oder Unruhen berichtet wird, dann sind das die Bilder, die wir dazu sehen. Ob es nun Venezuela, Ägypten oder Hong Kong ist. Nicht jede dieser Protestbewegung hat den einen, markanten Protestsong und nicht jeder Protestsong hat überhaupt ein Musikvideo.

Richtig interessant wird es dann, wenn Musikvideos, die auf der lyrischen Ebene wenig oder keine Sozial-, Politik- oder Gesellschaftskritik enthalten, sich auf Protest- oder Bürgerunruhen-Bilder beziehen. Das kann manchmal eine Kritik oder Provokation auf der visuellen Eben sein, manchmal spielt es aber auch „nur“ mit der Faszination für den rebellischen Underdog. Für die Protestierenden hat man ja meistens Sympathie, weil sie gegen eine Ungerechtigkeit oder einen Missstand kämpfen. Und wer eine dicke Lippe im Kampf gegen das System riskiert, der ist auf jeden Fall nicht langweilig und meistens auch ein bisschen verrucht. Dass sich jemand diese Konnotationen zu nutze macht, ist eigentlich erwartbar. Aber schauen wir uns doch einfach mal das erste Beispiel an und gehen direkt zum Rap und Hip-Hop.

Straight Outta Compton/Fight The Power

Die Entstehungsgeschichte von Rap und Hip-Hop ist eng verflochten mit der von Rassismus und Diskriminierung geprägten afro-amerikanischen Bevölkerung der USA. Mit N.W.A. und Public Enemy kamen zwei sehr einflussreiche Rap-Gruppen ins Spiel, die aus dem rassistisch geprägten Alltag schwarzer Menschen berichteten oder für deren Rechte rappten. Damit sprachen die Gruppen eine Lebensrealität an, die bis dahin in der Popkultur wenig Repräsentation bekommen hatte. Im Gegensatz zu vorangegangenen Protestsong-Schreiber*innen nutzten sie auch das Format des Musikvideos, um ihre Botschaft zu übermitteln und mit Aufnahmen von gewalttätigen Polizisten und Protestmärschen auf die Missstände aufmerksam zu machen.

N.W.A.s Track „Straight Outta Compton“ von 1988 und das zugehörige Album begründeten den Gangster Rap: Mitglieder wie Eazy-E und Ice Cube rappen über ihre Überfälle und Einbrüche und raten einem, sich lieber zu ducken, wenn sie vorbeifahren. Die AK-47 liegt bereit und wenn nötig, wird damit auch jemand erschossen. Der Text von „Fuck Tha Police“ ist hingegen stärker von den angesprochenen Themen wie Polizeigewalt und Racial Profiling geprägt. Ice Cube rappt:

A young n***a got it bad ‘cause I’m brown
And not the other color, so police think
They have the authority to kill a minority

Ice Cube in „Fuck Tha Police“

Die Bilder, die hier gezeigt werden, sind nicht direkt Protest im Sinne einer Gruppenbewegung, die auf die Straße geht. Aber das Setting des Videos ist ganz klar „The Streets“, mit großem S: die realen Straßen Comptons, brennende Mülltonnen, Graffiti. Verschiedene Szenen zeigen, wie sich die Gruppe Verfolgungsjagden mit der Polizei liefert, und immer wieder von den Polizisten erwischt und gegen eine Hauswand oder das Auto gedrückt wird.

N.W.A. – Straight Outta Compton (Regie: Rupert Wainwright)

1989, nur ein Jahr nach „Straight Outta Compton“, kommt der Song „Fight The Power“ der Gruppe Public Enemy raus. Die Line „Fight the power“ ist einerseits schon ein Zitat der Isley Brothers und gewann dann mit diesem Track weiter an Popularität. Rapper Chuck D und Public Enemy geht es weniger darum, Rivalität zu stiften als ein Bewusstsein für größere Zusammenhänge zu schaffen und gesellschaftliche Probleme zu kritisieren. Ursprünglich wurde das Lied als Single zu Spike Lees Film „Do the right thing“ veröffentlicht. Spike Lee führte dann auch bei dem Musikvideo Regie.

Zu Beginn werden Ausschnitte aus den Civil Rights Movements der 50er und 60er Jahre gezeigt, bei denen die Menschen für die gesellschaftlichen und rechtliche Anerkennung der afroamerikanischen Bevölkerung auf die Straßen gingen. Dann werden Public Enemy zusammen mit friedlichen Protestierenden gezeigt, die durch die Straßen marschieren. Mit dabei sind Demonstranten, die im militärischen Stil der Black Panther Party gekleidet sind. Die Black Panther Party war eine politische Vereinigung der 60er und 70er Jahre, die sozialistisch geprägt war und sich für die Rechte von P.o.C. in der amerikanischen Gesellschaft einsetzte. So positioniert sich das Musikvideo nicht nur durch den Text, sondern auch die Bilder im größeren Zusammenhang der afro-amerikanischen Politik-Geschichte.

Public Enemy – Fight The Power (Regie: Spike Lee)

La Haine

Frankreich hat seine eigenen Bilder der Straßenproteste und zivilen Unruhen. Die sogenannten Banlieues um Paris sind eng verbunden mit Bildern von Hochhäuser-Sozialwohnungen, Straßengangs und Beschaffungskriminalität. Diese Vororte an den Rändern der französischen Hauptstadt stehen symbolisch für das Versagen des französischen Staates, auch sozial Benachteiligte am wirtschaftlichen Erfolg des Landes teilhaben zu lassen. Logischerweise ist auch Paris deshalb häufig Schauplatz von Unruhen und Straßenprotesten, bei denen sich der Unmut der sozial Benachteiligten entlädt. Die Bilder dieser Proteste sind einerseits global verständlich, indem sie die Schlüsselbilder des Civil Unrest („Polizei vs. Protestierende“, „Brennende Autos“, „Zerschlagene Scheiben“) wiederholen. Andererseits sind sie extrem lokal, da die Architektur der Umgebung sehr spezifisch „französisch“ markiert ist; seien es die französischen Banlieue-Plattenbauten oder die klassizistische Architektur der zentralen Pariser Stadtviertel. Mit dem Film „La Haine“ (Hass) von 1995 hat Mathieu Kassovitz eine stilprägende Milieustudie der Banlieues in die Umlaufbahn geschossen, dessen schwarz-weiß-Quasirealismus sich in vielen Sozialdramen wiederfindet. Kassovitz spielt mit der Figur des „sympathischen Underdogs“ schafft es so, die Figuren und ihre Beweggründe nachvollziehbar zu machen.

La Haine (Regie: Mathieu Kassovitz)

Émeutes 2005

Was die Bilder zu Straßenprotesten angeht, hat Frankreich ein spezifisch geprägtes visuelles Reservoir. Im Herbst 2005 waren die Banlieues von Paris in Aufruhr, ausgelöst durch den Tod der zwei Jugendlichen Zyed Benna und Bouna Traouré, die vor einer Polizeikontrolle auf einen Stromsicherungskasten geflüchtet und durch einen Stromschlag ums Leben gekommen waren. Die sogenannten „émeutes 2005“ zogen sich über drei Wochen lang und führten zur Ausrufung des nationalen Notstandes. Soziologen interpretierten die Unruhen als Ausdruck der Unzufriedenheit der Banlieue-Bevölkerung mit der gescheiterten französischen Integrations- und Sozialpolitik. Da die Unruhen in ihrer Intensität, Dauer und Ausdehnung viele andere Proteste übertrafen, war auch die Berichterstattung besonders intensiv und präsent. Die Bilder haben das visuelle Gedächtnis der Nation nachhaltig beeinflusst.

Das Video stellt einen Zusammenschnitt aus dem Dokumentarfilm „Quand la France s’embrase“ von David Dufresne und Christoph Bouquet aus dem Jahr 2007 dar. Der Dokumentarfilm behandelt die Ereignisse der Proteste in den Vororten von Paris im Herbst 2005.

Stress

Die Banlieues und deren vorwiegend migrantisch geprägten Bewohner sind spätestens seit den „émeutes 2005“ ein heißes Eisen in Frankreich. Das französische Electro-Duo Justice griff 2008 nach ebendiesem Eisen und verpflichtete Romain Gavras für ein Musikvideo zu dem Song „Stress“. Das Video stellt visuell Referenzen sowohl zu „La Haine“, als auch zu den „émeutes 2005“ her. Gavras inszeniert eine Gruppe jugendlicher Übeltäter, die sowohl weiß aber vor allem auch P.o.C. sind. Und damit fängt das Problem an: Das Musikvideo zeigt in einem dokumentarischen Stil – aus der Handkamera in schlechter Auflösung gefilmt – wie die Gruppe schlägernd und vandalisierend durch die Stadt zieht. Ob das nun provokant gemeint ist oder nicht: Es ist zumindest problematisch, denn einerseits wiederholt und verstärkt es die visuelle Ikonographie jugendlicher, männlicher P.o.C. im Kontext von Gewalt und Ausschreitung. Andererseits vermittelt es durch den dokumentarischen Stil eine Schein-Authentizität, ein „Das ist wirklich so passiert“.

Je nachdem, wer das Video unter welchen Vorannahmen schaut, fällt die Interpretation anders aus. Es kann sein, dass jemand es als gezielte Übertreibung und Provokation von fremdenfeindlichen Stereotypen liest. Oder jemand sieht sich in genau so einer fremdenfeindlichen Einstellung bestätigt oder sogar seinerseits zu Gewalt berechtigt.

Justice – Stress (Regie: Romain Gavras)

No Church In The Wild

Es scheint, als ob Romain Gavras noch nicht genug hatte von dem Thema. 2012 kommt der Song „No Church in the Wild“ von Kanye West, Jay-Z und Frank Ocean raus. Auch hier führt Gavras Regie für das zugehörige Musikvideo. Und wieder bezieht er sich in der Bildsprache ganz deutlich auf die „émeutes 2005“. Als Sujet zu sehen sind die visuellen Marker für Straßenprotest (Jemand tritt gegen eine Polizeibarrikade, ein Molotowcocktail wird geworfen, ein Auto brennt, Uniformierte zerren an Protestierenden).

Aber diesmal wählt Gavras einen fast schon konträren Stil zu dem „Stress“-Musikvideo. Die Figuren sind mit klassischer Kameraführung, hochauflösender Qualität und kunstvollen Slow-Motion-Aufnahmen eingefangen. Es werden Aufnahmen von klassizistischen und antiken Statuen dazwischengeschnitten und alle Aufnahmen liegen unter einem athmosphärischen, grau-grünen Rauch.

Interessanterweise ergeben sich hier im Blick auf die Lyrics zwei verschiedene Bedeutungsebenen, die aber über das Video in Verbindung stehen:

Eine Bedeutungsebene ist der oben beschriebene, politisch und sozial aufgeladene Kontext der „émeutes 2005“. Und auch wenn keine der Figuren besonders heraussticht oder auf irgendeine Weise charakterisiert wird: Die Sympathien der Youtube-Kommentatoren liegen eindeutig bei den „Underdogs“, ähnlich wie bei „La Haine“.

Die andere Bedeutungsebene ergibt sich durch den Text: Dieser handelt von Konflikten zwischen religiös-moralischen Normen und dem eigenen Begehren und ist gespickt mit Referenzen auf antike Philosophen und metaphysische Überlegungen. Frank Ocean beginnt den Song mit dem Chorus:

Human beings in a mob
What’s a mob to a king? What’s a king to a god?
What’s a god to a non-believer who don’t believe in anything?

Will he make it out alive? Alright, alright, no church in the wild

Frank Ocean im Chorus von „No Church In The Wild“

Der Mob ist sowohl im Text, als auch im Video. Genauso ist „the wild“ in Form von Gewaltausschreitungen und in gewisser Hinsicht auch „the church“ in Form der klassizistischen Architektur im Bild. Wem kommen bei antiken, philosophischen Überlegungen („Is Pious pious ‚cause God loves pious?„) nicht direkt weiße Marmorstatuen in den Sinn? Das Video zeigt sie einem.

Jay-Z, Kanye West, Frank Ocean – No Church In The Wild (Regie: Romain Gavras)

Monster

Bei einem Song, in dessen Liedtext es um obsessive Liebe und Verlangen geht, sind visuelle Referenzen zur Protestkultur zumindest überraschend. So geschehen ist das aber zum Beispiel bei dem Musikvideo zu dem Song „Monster“ der K-Pop-Gruppe Exo aus dem Jahr 2016. Es wäre jetzt leicht, sich über diese offensichtliche Inkongruenz zwischen Text und Bild lustig zu machen. Aber dann wäre wenig gewonnen. Als bekennender K-Pop-Fan kann ich gar nicht umhin, mir das Ganze genauer anzuschauen.

Auf den zweiten Blick ist die Inkongruenz nämlich schon gar nicht mehr so groß. Denn es werden hier zwei Darstellungswelten miteinander kombiniert, die einerseits eine eindeutige Referenz zum Text herstellen, aber andererseits dem Ganzen durch den visuellen Bezug zur Protestkultur einen erweiterten Interpretationsspielraum geben.

Das lyrische Ich positioniert sich schon im Liedtitel als „Monster“ und das lyrische Du wird direkt mal mit Haut und Haar verschlungen (뒤집고 무너트리고 삼켜 – I’ll flip you over, break you down and swallow you up). Damit kann das lyrische „Ich“ ganz deutlich dem im K-Pop beliebten Archetyp des „Bad Boys“ zugeordnet werden. Der Archetyp wird in diesem Video visuell durch die Codes „dunkle Beleuchtung/Nacht“, „ästhetisch ansehnliche Wunden“, „Industrial-Schmuck/Piercings“ und „Schlange“ (die Bildmetapher für Bösartigkeit überhaupt) markiert.

Die Referenzen auf die Protestkultur sind im Sujet erstaunlich nah an bereits besprochenen Schlüsselbildern dran. Wieder ist da ein brennendes Auto, wieder wird gegen eine Polizeibarrikade getreten, wieder wird von Uniformierten an Protestierenden gezerrt. In diesem Video kommen mit Aufnahmen von Überwachungskameras und Verpixelung sogar noch Marker für staatliche Beobachtung dazu.

Der Stil ist für K-Pop typisch in hochauflösenden, glänzend und beinnahe unnahbar wirkenden Aufnahmen gehalten. Natürlich hat das auch Gründe, denn im K-Pop sind die Idols (die einzelnen Gruppenmitglieder) ein wichtiger, emotionaler Bezugspunkt für die Fans. Die perfekt in Szene gesetzten Nahaufnahmen der Gesichter sind kultivierter Bestandteil eines K-Pop-Videos. Sie dienen hier aber auch dazu, die Bad Boys mit dem Protest-Narrativ zu verbinden. Dabei ist selbstverständlich relevant, dass Protestierende in der Darstellungstradition der Protestkultur immer wieder als rebellische Sympathieträger (Stichwort „Underdog“) inszeniert sind.

Was allerdings genauso wichtig ist: Die bei „Monster“ referenzierten Protestbilder sind im Gegensatz zu allen anderen Beispielen zeitlich und örtlich unspezifisch. Der Musikethnologe Michael Fuhr hat festgestellt, dass das in sehr vielen K-Pop-Videos so ist und erklärt das mit der globalen Vision, die K-Pop-Produzenten von Anfang an hatten (2). Das Video muss zeitlich und örtlich so unspezifisch wie möglich sein, damit es in möglichst vielen Teilen der Welt funktioniert. Natürlich geht damit aber auch jede politische und gesellschaftliche Sprengkraft abhanden. Ein K-Pop-Video mit politischer oder gesellschaftlicher Kritik ist nicht undenkbar (3), aber gerade bei großen Entertainment-Agenturen wie dem hier verantwortlichen SM Entertainment wird so etwas aus kapitalistischer Logik heraus tunlichst vermieden. Da kommt noch hinzu, dass Idols oft auch dem Bild des idealen koreanischen Bürgers entsprechen sollen. Gesellschafts-Kritik wäre also nicht nur ein finanzielles, sondern auch ein image-technisches Wagnis.

Exo – Monster (Regisseur*in nicht genannt)

Glory To Hong Kong

Für unser eurozentrisches Weltbild nicht allzu weit entfernt von Südkorea liegt ein aktueller Hotspot der Protestkultur: Hong Kong. Hong Kong ist seit 1997 eine Sonderverwaltungszone. Dadurch ist Hong Kong rechtlich fast unabhängig von Festland-China. Genau diese Unabhängigkeit sehen die Protestierenden in Hong Kong durch eine geplante Gesetzesnovelle bedroht und fordern deshalb den Rückzug dieser Novelle. Im Sommer 2019 haben die Proteste begonnen und gelten als die massivsten Proteste seit den gewalttätig niedergeschlagenen Demokratie-Protesten 1989 auf dem Tian’anmen-Platz. Auch wenn sich bereits erste Anzeichen von Gewaltausschreitungen auf beiden Seiten zeigen, halten die vorwiegend friedlichen Proteste nach wie vor an.

Inzwischen hat die Bewegung ihren eigenen Protestsong: Der „Glory to Hong Kong“-Marsch. Er wurde von einem Mann mit dem Decknamen „Thomas dgx yhl“ und mit Hilfe von Usern der Internet-Plattform LIHKG geschrieben. Immer wieder finden sich Protestierende in großen Malls oder Plätzen zusammen und singen das Lied gemeinsam.

Am 11. September 2019 wurde dann ein Video mit dem Titel《願榮光歸香港》管弦樂團及合唱團版 (was laut Google Translator „»Glory to Hong Kong« Orchester- und Chorausgabe“ heißt) auf Youtube hochgeladen. Es zeigt die Sänger und Orchesterspieler in voller Protestmontur: mit Helm, Sicherheitsbrillen und Mundschutz. Der Mundschutz ist in diesem Video ein visuell doppelt belegtes Zeichen. Im asiatischen Raum ist das Tragen eines Mundschutzes ein alltägliches Bild. Somit steht die Gesichtsbedeckung einerseits für den Schutz gegen äußere Einflüsse auf Demonstrationen, und andererseits wird das Video damit geografisch auf den asiatischen Raum festgelegt.

Dieses vorerst letzte Beispiel hat mir selber auch noch einmal verdeutlicht, wie selbst kleine Details im Bild für die Interpretation einer Gesamtaussage wichtig sein können. Insgesamt bin ich tatsächlich überrascht, dass es nicht noch mehr Musikvideos gibt, die sich visuell auf Protest und Bürgerunruhe beziehen. Ein paar Videos (wie z.B. „White Riot“ von The Clash) habe ich bewusst ausgelassen, da die visuellen Referenzen auf die Protestkultur nicht eindeutig oder besonders dominant waren.

An dieser Stelle möchte ich uns allen noch mal ins Gedächtnis rufen, dass die Bilder, die wir mit Protestbewegungen verbinden, manchmal auch eine sehr bittere und brutale Realität haben. Überall auf der Welt geschieht immer wieder Unrecht und wenn Menschen sich dagegen wehren, kann dies tödliche Folgen haben. Dass ich in diesem Artikel auch Musikvideos bespreche, die in keiner Beziehung zu solchen Bewegungen stehen, ist nicht zynisch gemeint. Ich sehe darin auch ein bisschen, wie verrückt diese globale Welt ist, in der wir leben: Während die einen für ein bessere Gesellschaft auf die Straße gehen und dabei ihr Leben riskieren, sitzen die anderen vor ihrem PC und schreiben Artikel über Protest-Musikvideos. Ich weiß, wie dürftig das klingt. Ein (selbst-)kritischer Blick ist an dieser Stelle also durchaus angebracht. Deshalb: Schreibt mir gerne, falls ihr das Gefühl habt, dass ich dem Thema nicht gerecht geworden bin oder dass ich ein wichtiges Musikvideo ausgelassen habe. Ich bin gespannt.

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(1) Die visuelle Macht von rebellierenden Underdogs ist auch anderen politischen Bewegungen bewusst. Seit dem G20-Gipfel in Hamburg ist der Begriff „Schwarzer Block“ am zirkulieren. Damit in Verbindung stehen die Bilder von überwiegend schwarz angezogenen Demonstranten, die in den Hamburger Straßen Autos anzündeten und sich Scharmützel mit der Polizei lieferten. Interessanterweise gibt es nicht nur in der linken, sondern auch in der rechten Szene eine Tendenz, auf diese visuelle Kultur zurückzugreifen. Die beiden politischen Extreme treffen sich visuell an dieser Stelle.
(2) Fuhr, Michael. Globalization and Popular Music in South Korea. New York 2016, S. 162
(3) Gruppen wie Seo Taiji & Boys oder BTS sind mit Songs bekannt geworden, die z.B. das Schulsystem oder die ältere Generation in Südkorea kritisieren.

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