Florenz, 1348: Die Stadt versinkt im Chaos. Dreckige Straßen, der stechende Gestank des Todes und die allgegenwärtige Bedrohung der Pest prägen das Bild. Leichen türmen sich entlang der Wege, während die kalte Hand des Schwarzen Todes immer weiter um sich greift. Wer es sich leisten kann, flieht aufs Land – so auch eine Gruppe Adeliger, die sich in einer abgelegenen Villa versammelt, um der Seuche zu entkommen. Bis hierhin folgt „The Decameron“ (2024, Showrunnerin Kathleen Jordan, Netflix) der Vorlage des Klassikers „Decamerone“ (1349-1353) von Giovanni Boccaccio.
Doch ab diesem Punkt nimmt die Serie eine moderne und freche Wendung: Was als Rückzug beginnt, entwickelt sich zu einer Mischung aus „bisexuelle Bachelorette trifft auf Squid Game“ – oder wie Schauspielerin Tanya Reynolds es beschreibt: „Love Island meets Lord of the Flies“. Anstatt sich wie in Boccaccios Werk gegenseitig Geschichten zu erzählen, erleben die Figuren in Jordans Adaption die Dramen am eigenen Leib. Und so entfaltet sich ein wildes, unverschämtes Spektakel voller Alkohol, Sex, Intrigen – und einer ordentlichen Portion Ekel. „The Decameron“ bietet dabei ein unterhaltsames und oft provokantes Erlebnis, das bewusst die Grenzen des guten Geschmacks auslotet.
Tanya Reynolds und Co.: Facettenreiche Figuren in einer explosiven Dynamik
Als ich erfuhr, dass Tanya Reynolds die Hauptrolle in „The Decameron“ übernimmt, wusste ich, dass ich die Serie unbedingt sehen muss. Reynolds beeindruckte bereits in „Emma“ (2020), wo sie als überaus hochnäsige Frau des Priesters für viele Lacher sorgte. In „The Decameron“ schlüpft sie in die Rolle der Magd Licisca, die im Dienst der adeligen Filomena (gespielt von Jessica Plummer) steht. Zwischen den beiden Frauen besteht ein enges, fast schwesterliches Verhältnis – eines, das jedoch in klassischer Kain-und-Abel-Manier auf die Probe gestellt wird. In einem dramatischen Moment direkt am Anfang wirft Licisca Filomena über eine Brücke, hält sie für tot und nimmt fortan ihre Identität an.
In der Villa trifft Licisca auf Pampinea (Zosia Mamet), die Verlobte des abwesenden Villa-Eigentümers. Zosia Mamet kennt man bereits aus „Girls“ als Shoshanna. An ihrer Seite steht die Magd Misia, gespielt von der großartigen Saoirse-Monica Jackson, die vor allem als Erin aus „Derry Girls“ bekannt ist. Mit ihr gibt es neben Reynolds eine weitere talentierte Mimin, die mit ihrer „Gesichtsakrobatik“ und ihrem komödiantischen Timing für etliche Highlights sorgt. Reynolds und Jackson waren für mich die größten Gründe, warum ich die Serie unbedingt schauen wollte.
Neben den starken weiblichen Charakteren finden sich weitere spannende Figuren in der Villa ein: Sirisco, der Hofmarschall (Tony Hale), die alleskönnende Köchin (Leila Farzad), das frisch verheiratete Paar Neifile (Lou Gala) und Panfilo (Karan Gill), der reiche, jedoch angeblich todkranke Tindaro (Douggie McMeekin) sowie der charismatische Arzt und Frauenheld Dioneo (Amar Chadha-Patel).
Die Dynamik zwischen diesen Charakteren ist fantastisch. Besonders die komplexen Beziehungen zwischen den Frauen sind ein echtes Highlight der Serie. Das Zusammenspiel der Darsteller:innen bringt die unterschiedlichen Gefühle und Spannungen innerhalb der Gruppe lebendig zum Ausdruck. Das Schauspiel ist teils übertrieben, aber es passt perfekt zur bewusst skandalösen und überzeichneten Inszenierung der Serie. Man fühlt mit den Figuren, versteht ihre Fehler und Abgründe – und wird immer wieder von ihren Ecken und Kanten überrascht. Die Charaktere bauen locker auf Boccaccios Originalfiguren auf, sind jedoch an den veränderten Plot angepasst.
Kostüm, Kulisse und Kamera: Die stimmige Ästhetik von „The Decameron“
„The Decameron“ spielt im Spätmittelalter, und für meinen laienhaften Blick wirken die Kostüme überraschend authentisch – auch wenn die Kostümdesignerinnen offen zugeben, sich einige Freiheiten genommen zu haben. Farben werden in der Serie reichlich eingesetzt, doch die Auswahl von Schnitten und Stoffen bleibt realistisch, besonders im Vergleich zu den extravaganten Outfits der dritten Staffel von „Bridgerton“. Diese Balance zwischen Authentizität und Kreativität verleiht der Serie einen eigenständigen Stil, den man sonst nur von „Catherine Called Birdy“ (2022) kennt.
Die Villa, in der sich die Figuren zurückziehen, ist ein prachtvoller Schauplatz, der die Zuschauer:innen mühelos in die Welt eintauchen lässt. Bemerkenswert ist auch die Darstellung des pestgeplagten Florenz, das fast schon erschreckend realistisch wirkt und die bedrohliche Atmosphäre der Zeit spürbar macht. Trotzdem wird schnell klar: Zwischen „The Last Kingdom“ und „Monty Python“ liegen wir definitiv bei letzterem. Soll bedeuten, hier kommt Comedy vor Epik, Ekel und Blutvergießen sind mehr abstrakt und übermalt, als dass sie wirklich eindringlich dargestellt werden.
Die Kameraführung und technische Inszenierung unterstützen die Erzählung gekonnt, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Die Ästhetik folgt hier ganz der Geschichte und lässt den Figuren und dem Humor den Raum, sich zu entfalten. Statt prunkvoller visueller Exzesse beeindruckt „The Decameron“ vielmehr durch seine erfrischende Leichtigkeit, seinen subtilen Witz und die gelungene Mischung aus historischer Anmutung und modernem Storytelling.
Die drei Säulen von „The Decameron“: Pandemie, Freundschaft und gesellschaftliche Strukturen
Die drei großen Themen, die „The Decameron“ in den Vordergrund stellt, sind Pandemie, Freundschaft und gesellschaftliche Hierarchien.
Die Thematik der Pandemie ist für uns alle noch schmerzlich nah. Die Serie fühlt sich daher fast erschreckend aktuell an. Auch wir haben in den letzten Jahren Wochen, Monate oder sogar Jahre in Isolation verbracht, was den oder die ein oder andere:n an den Rand des Wahnsinns gebracht hat. Wie im Spätmittelalter kursierten Aberglauben und Halbwahrheiten über die Krankheit, die das Leben prägten und Freundschaften sowie gesellschaftliche Strukturen beeinflussten. So wird die Pest in „The Decameron“ zu einer symbolischen Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Ein zentrales Thema der Serie sind die gesellschaftlichen Hierarchien, die im Verlauf der acht Folgen langsam zerfallen. „The Decameron“ stellt die Frage: Was ist ein Adelstitel wert, wenn niemand mehr am Leben ist, um ihn zu bestätigen? Wie relevant ist gesellschaftlicher Status, wenn materielle Sicherheit und Ordnung nicht mehr existieren? Die Serie untersucht diese Fragen und lässt uns Zeug:in eines langsamen Zerfalls der starren mittelalterlichen Strukturen werden.
Neben den gesellschaftlichen Strukturen befasst sich die Serie auch mit den sozialen Banden zwischen den Personen. Freundschaft, vor allem Freundschaft zwischen Frauen, ist das emotionale Thema. Co-Abhängigkeit, ungleiche Freundschaften, geschwisterliche Freundschaften, Freundschaft in der Ehe: Es werden alle Variationen von Freundschaft ausgeleuchtet und in einer Vielfalt dargestellt, wie bisher selten. Romantische Liebe als Thema wird fast vollständig dadurch ersetzt. Liebe wird hier nur als Mittel der Macht verwendet, „wahre“ Liebe existiert nur in der Freundschaft.
Stärken und Schwächen: Ein unterhaltsames Meisterwerk mit kleinen Hürden
„The Decameron“ überzeugt vor allem durch die schauspielerischen und komödiantischen Talente von Tanya Reynolds und Saoirse-Monica Jackson, die zusammen mit dem gesamten Ensemble ein spannendes Meisterwerk kreieren. Die Serie ist unterhaltsam, kurzweilig und absurd zugleich. Die unterschiedlichen Akzente der Darsteller:innen – Pampinea mit ihrem amerikanischen Akzent, Licisca mit britischem Einschlag und Misia mit irischer Färbung – stören nicht, sondern bereichern die Charaktere. In einer realistischen Darstellung wäre in der Villa sowieso Italienisch gesprochen worden. Diese sprachliche Freiheit gibt den Protagonist:innen mehr Persönlichkeit und erlaubt den Schauspieler:innen, in ihren eigenen Dialekten zu glänzen.
Die Kostüme und das Bühnenbild sind visuell ansprechend und vermitteln ein authentisches Bild der Zeit. Trotz des humorvollen Tons gelingt es der Serie, tiefgründige Themen anzusprechen, während die Charaktere komplex und facettenreich bleiben. Manche Handlungen mögen objektiv falsch erscheinen, doch sie sind nachvollziehbar und verleihen der Geschichte eine gewisse Tiefe.
Einziger Nachteil: Im Verlauf der Handlung scheint die Geschichte zeitweise abzudriften. Einige Zuschauer:innen müssen möglicherweise etwas Durchhaltevermögen zeigen, denn auch die Erzählung kämpft, um alle Fäden wieder zusammenzuführen.
Fazit: Eine gelungene Mischung aus Humor und Tiefe
„The Decameron“ ist eine erfrischende und unterhaltsame Adaption, die sowohl humorvolle als auch tiefgründige Elemente gekonnt miteinander verbindet. Die starken schauspielerischen Leistungen von Tanya Reynolds und Saoirse-Monica Jackson, aber auch dem gesamten Ensemble, bringen die Charaktere zum Leben und verleihen der Geschichte eine faszinierende Dynamik. Die visuelle Gestaltung, von den aufwendigen Kostümen bis hin zum authentischen Bühnenbild, trägt dazu bei, die Zuschauer:innen in die Welt des spätmittelalterlichen Florenz zu entführen.
Obwohl die Serie an manchen Stellen von ihrer eigenen Komplexität abgelenkt wird und die Handlung zeitweise abzudriften scheint, bleibt sie dennoch fesselnd. Die Themen von Pandemie, Freundschaft und gesellschaftlichen Hierarchien sind zeitlos und spiegeln aktuelle Herausforderungen wider. Insgesamt ist „The Decameron“ eine gelungene Mischung aus Geschichte und moderner Erzählkunst, die zum Nachdenken anregt und gleichzeitig hervorragend unterhält. Es ist eine Serie, die sowohl Fans historischer Dramen als auch Liebhaber:innen humorvoller Geschichten begeistern wird.
Titelbild: Netflix

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