„Anatomie eines Falls“ ist einer der vielen Filme, die beim Film Festival Cologne zu sehen waren. Nach der Auszeichnung mit der Goldenen Palme in Cannes war die Ausstrahlung in Köln sehr gut besucht. Als französischer Krimi mit deutscher Hauptbesetzung in Form von Sandra Hüller fand ich es spannend zu sehen, ob es dem Film gelingen würde, ein großes Publikum mitzureißen.
Der Film handelt größtenteils in einem verschneiten Haus in den Alpen Frankreichs. Die erfolgreiche, deutsche Autorin Sandra (Sandra Müller) soll von der Studentin Zoé (Camille Rutherford) interviewt werden, doch wird von der lauten Musik ihres Ehemanns Samuel daran gehindert. Das Interview wird abgebrochen. Der Sohn der Familie Daniel (Milo Machado Graner) geht mit seinem Hund spazieren. Er kommt zurück und findet die Leiche seines Vaters im Schnee vor dem Haus. Ein Jahr später steht Sandra für den Mord an ihrem Ehemann vor Gericht. Sie beteuert ihre Unschuld. Beweise gibt es wenige, die Indizien sind schwammig und so sind die Aussagen ihres Sohnes prozessentscheidend…
Nach kurzer Ansicht des Trailers auf Deutsch macht es meiner Meinung nach Sinn, den Film wie auf dem Film Festival im Originalton mit Untertiteln zu schauen. Die Sprache wechselt häufig, da die Figuren verschiedenen Nationalitäten angehören. Auch die Autorin und ihr Ehemann unterhalten sich mal auf Englisch und mal auf Französisch. Dabei kommt es zu Kommunikationsschwierigkeiten, die meines Erachtens den Bruch und die Schwierigkeiten der Ehe authentisch darstellen. Die deutsche Synchronisierung macht das ganze etwas unauthentischer.
Achtung, in diesem Abschnitt sind Spoiler enthalten.
Regisseurin Justine Triet baut gemeinsam mit ihrem Partner und Drehbuchautor Arthur Harari eine Geschichte auf, die nicht einfach zu durchschauen ist. „Anatomie eines Falles“ gibt nur wenig Hinweise auf mögliche Tatmotive. Die Geschichte spielt sich vor allem im Gerichtsaal und im Haus der Familie ab. Die Ausgangssituation des Falls scheint eindeutig. Bevor Daniel mit dem Hund spazieren geht, ist noch alles normal. Als er zurückkommt, findet er seinen toten Vater im Schnee. Nur seine Mutter Sandra war zuhause. Ein Fenster unterm Dach steht offen. So weit, so einfach. Doch dann wird der Fall immer komplizierter. Die Familie hatte finanzielle Probleme, der Vater sah sich verantwortlich für die Erblindung seines Sohnes. Die Ehe machte gerade eine schwere Zeit durch. Man ist hin und hergerissen im Urteil über Schuld und Unschuld. Laut eigener Aussage wollten Triet und ihr Partner Arthur Harari bei diesem Drehbuch über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen schreiben und speziell den Verfall einer Ehe. Ein Streitpunkt, den Triet und Harari durch das Ehepaar des Films thematisieren, ist die Care Arbeit in der Ehe.
Care Arbeit und Mental Load
Sandra ist erfolgreiche Bestseller-Autorin. Sie schreibt und recherchiert unentwegt an ihren Romanen. Daher ist sie Hauptverdienerin der Familie. Samuel, ihr Ehemann, arbeitet eigentlich als Professor und an seinen Buchmanuskripten, doch seit dem Unfall ihres Sohnes unterrichtet er vor allem diesen und übernimmt seiner Aussage nach die meisten Aufgaben im Haushalt. Seine Manuskripte bleiben dadurch liegen, obwohl er gerne mehr Zeit dafür hätte. Sandra hat für die Unfähigkeit ihres Mannes, in dieser Situation zu schreiben, kein Verständnis. Sie könne „immer und überall“ schreiben. Wenn er mehr Zeit brauche, solle er sich diese doch einfach nehmen. Samuel findet, dass sie dafür aktiv werden muss und mehr Aufgaben im Haushalt übernehmen muss. Dieser Konflikt zwischen Sandra und Samuel ist vielen Konflikten in Beziehungen nicht unähnlich. Der Film bietet so eine neue Perspektive auf den aktuellen Diskurs um Care-Arbeit. Dass ein Großteil der Care- und Hausarbeit von einer Person in einer Beziehung gemacht wird, hört man in letzter Zeit sehr häufig und können wahrscheinlich die meisten bestätigen, die in Familien mit klassischer Rollenverteilung aufgewachsen sind. Samuel, geplagt von Trauma und psychischen Problemen, möchte gerne mehr Verantwortung für’s Mitdenken (auch „mental load“ im Care-Diskurs genannt) an Sandra abgeben. Wer sich ständig Gedanken darüber macht, was noch gekauft werden muss, was noch gemacht werden muss und was im Leben des Kindes abgeht, hat nicht keine Muße für Tagträumereien, die zum Schreiben wichtig sind. Sandra scheint den „mental load“ nicht nachempfinden zu können, weswegen sie die Anfrage als übertrieben empfindet. Samuel solle sich die Zeit doch einfach nehmen. Der Film illustriert das Konzept des mental loads und die damit einhergehende Misskommunikation und Probleme, sehr nachvollziehbar. Die Rollen sind dabei umgekehrt, der Mann übernimmt den Großteil der Mental Load. Das spielt damit mit den Erwartungen des Publikums, weil man vorher intuitiv davon ausgeht, dass es andersrum ist. Gleichzeitig wird Sandra dadurch für das Klischee einer Frau unnatürlich kalt und gleichgültig. Außerdem könnte es Männern so deutlicher vorführen, warum diese ungerechte Verteilung anstrengend sein kann, da sie sich mit der männlichen Seite gegebenenfalls besser identifizieren können.
Deutsch-Französische Differenzen
Die Misskommunikation wird durch den ständigen Sprachenwechsel noch verstärkt. Sandra ist deutsch, Samuel ist französisch. Sandra kann einfaches Französisch, versteht auch alles, doch verlässt sich im Alltag dann doch schnell auf Englisch. Auch mit ihrem Sohn redet sie auf Englisch. In ihrem ständigen Sprachwechsel merkt man ihr eigentlich eine Kompromissbereitschaft an. Gleichzeitig konnte sie sich wohl nie dazu durchringen, Französisch so zu lernen, dass sie es durchgängig spricht. Möglicherweise ein Zeichen ihrer Unangepasstheit oder auch ein Drang nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Manchmal steht ihre trockene deutsche Art in starkem Kontrast zu ihrem leidenschaftlicheren, französischen Mann. Auch die Dissonanzen, die dadurch mit ihrem Anwalt Vincent entstehen, sind spannend. Ihre Direktheit stößt den fast schon romantischen Vincent manchmal gehörig vor den Kopf. Diese Misskommunikation trägt dazu bei, dass Sandra für Vincent und die Zuschauer:innen fragwürdig bleibt und wirft ein negatives Licht auf sie im Bezug auf den Fall und ihre Schuld daran.
Unzuverlässige Erzähler
Kurze Episoden werden aus der Sicht des Sohnes Daniels erzählt. Trotz seiner starken Kurzsichtigkeit bekommt er mit, was im Haus und im Leben seiner Eltern passiert. Wo stand Daniel, als seine Eltern sich stritten? Mal sieht man die eine Perspektive, dann die andere. So, wie Daniel seinen Augen nicht trauen kann, so kann das Publikum auch nicht immer dem trauen, was auf der Leinwand zu sehen ist. Persönlich mag ich die Trope des unzuverlässigen Erzählers sehr gerne, da sie den Film, wie auch in diesem Fall, spannender und komplexer macht (mehr zu unzuverlässigem Erzählen hier). Auf die Perspektive des Kindes kann man sich doch verlassen, oder?
Fazit
„Anatomie eines Falles“ ist ein multilingualer Krimi in den idyllisch verschneiten Alpen Frankreichs und im Gerichtsaal, der spannend, tiefsinnig und definitiv empfehlenswert ist. Das Publikum beim Film Festival Cologne wurde an der ein oder anderen Stelle durch ein paar Längen manchmal unaufmerksam. Aber alle im Saal schienen von dem Rätsel gepackt und zum Schluss von der Auflösung überrascht. Es wurden Themen wie Mental Load und Care-Arbeit angeschnitten, ausgebreitet und auf den Kopf gestellt. Während der Film größtenteils auf reißerische Mittel verzichtet, setzt es die Trope des unzuverlässigen Erzählers effektiv ein. Ich war begeistert von der Tiefsinnigkeit, dem dramaturgischen Aufbau und der schauspielerischen Leistung und werde mir den Film garantiert noch einmal anschauen.
Titelbild: Plaoin Pictures
