Body Music: Über Körperlichkeit, Befreiung und Queerness im Alt Reggaeton

Ich sage es lieber direkt zu Beginn: Die hier thematisierte Musik ist nichts für schwache Gemüter oder das gemütliche Teekränzchen. Wer gerade bei seiner katholischen Großmutter zu Besuch ist, sollte die Videos lieber nicht auf laut stellen. Auch für mein gutbürgerlich sozialisiertes Gemüt sind die beiden Subgenres Alt Reggaeton und die aufgekratzte, punkige Schwester Neoperreo gewöhnungsbedürftig explizit. Deshalb wird es in diesem Artikel auch persönlich und sogar ein bisschen gruselig. Aber mehr dazu später.

Reggaeton Origin Story

Der heute populäre Reggaeton entstand in Puerto Rico in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern aus Einflüssen von Reggae, Hip Hop, Dancehall und europäischer Club-Musik. Mit Daddy Yankees „Gasolina“ kam Reggaeton 2004 in den europäischen Mainstream. In den Texten geht es oft um Liebe und Sex. Das ist erstmal nicht weiter auffällig, denn darum geht es auch in neunzig Prozent der sonstigen Popmusik.

Screenshot aus dem Musikvideo zu „Gasolina“ von Daddy Yankee (2004)

Der zugehörige Tanz zu Reggaeton heißt Perreo – eigentlich ein Slang-Wort für Geschlechtsverkehr zwischen Hunden. Sehr subtil. Bei dem Tanz steht ein Mann hinter einer Frau, während diese sich nach vorne beugt und den Hintern im Rhythmus schwingt, ähnlich wie beim Twerken. So weit, so sportlich.

Frischer Wind

„Klassischer“ Reggaeton lief bei mir auch früher ab und zu, aber eher als Party-Musik – spezifisch in den wunderbaren ein bis zwei Stunden, in denen ich mich gemeinsam mit Freundinnen vor dem Spiegel für den weiteren Abend fertig machte. It’s a girl thing. 

Aber vor einigen Jahren fielen mir die ersten Songs auf, die Reggaeton irgendwie ✨anders ✨ machten. Angefangen hat für mich alles mit einem Song von Arca, auf den ich vor einer Weile gestoßen bin. Arca veröffentlichte 2015 ein sperriges, fremdartig klingendes Album, in dem ein Song mit dem rätselhaften Titel „????? A“ enthalten ist. Ein faszinierendes und experimentelles Musikstück, das aber keinerlei Bezüge zu Reggaeton aufweist. Mit Künstlerinnen wie Kali Uchis oder Rosalía kamen gegen Ende der 2010er dann verschiedene Strömungen südamerikanischer, spanischsprachiger Musik zu mir in die Lautsprecher geschwappt. Und spätestens Anfang der 2020er fielen mir dann offensichtliche Reggaeton-Einflüsse in Songs wie „Mequetrefe“ (Arca, 2020) oder „Linda“ (Tokischa, Rosalía, 2021) auf.

Queere Wurzeln des Alt Reggaeton

Bisher waren die meisten Reggaeton-Künstler männlich und die Texte nicht gerade für progressive Frauenbilder bekannt. In der aktuellen Strömung des Alt Reggaeton und Neoperreo geben aber Frauen und bonbinäre Künstler:innen den sprichwörtlichen Ton an. Sie machen sich den körperbezogenen Reggaeton mitsamt seinen überzeichneten Frauenbildern zueigen und schauen aus ihrem eignen Blickwinkel auf die Musik. Auf den ersten Blick könnte man bei Texten und Musikvideos denken, es habe sich nicht viel geändert: Es geht noch immer viel um Körperkontakt und Hintern.

Aber wer genauer hinhört und -schaut, merkt: Es macht einen Unterschied, wer der:die Absender:in der Musik ist. Die Künstler:innen setzen sich mit der Musik provokant als selbstbewusste Bestimmer:innen über ihre Körper in Szene. Der Körper ist kein gefügiges, flüchtiges Element, sondern nimmt Raum ein und ist unübersehbar präsent.

Dazu gehört eine gehörige Portion Übertreibung, auch was die Stilmittel und typischen Soundmotive des Reggaeton angeht. Fans von Hyperpop müssten spätestens jetzt aufmerksam geworden sein. Genau wie beim Alt Reggaeton besteht beim Hyperpop eine enge Verbindung zur queeren Szene und die Grundprinzipien liegen in der Übertreibung dominanter Popmusik-Stilmittel. Die beiden Musikströmungen überschneiden sich immer wieder. Das zeigt sich auch an Features mit Hyperpop-Größen wie der verstorbenen SOPHIE, Shygirl oder der Pop-Veteranin Björk.

Mein Körper ist kein Tempel, sondern ein Kabinett des Schreckens

Alt Reggaeton ist Körpermusik nicht nur in einem selbstermächtigenden Sinne, sondern auch in einem entfremdenden Sinne. Arca inszeniert ihren Körper und ihre künstlerische Figur als ein gruseliges Wesen irgendwo zwischen Alien, Sexpuppe und Frankenstein. 

Albumcover „KICK ii“, Arca (2021)

Es gibt bereits einige Analysen, inwiefern das körperbezogene Film-Genre Body Horror queer gelesen werden kann. Arcas künstlerische Inszenierung ist ein gutes Beispiel dafür.

Einen Körper zu haben, ist das Normalste der Welt und zugleich ein riesengroßer Schrecken. Als cis-Frau bin ich zwar nicht von der zutiefst verstörenden Körperentfremdung betroffen, die Transpersonen beschreiben. Aber es gibt Momente, in denen ich meinen Körper als feindlich und unheimlich erlebe. In dem akademisierten, bürgerlichen Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, wird offensive Körperbetontheit und Weiblichkeit als vulgär empfunden. Latent präsent ist das Ideal, körperlich zurückgenommen und „anständig“ zu sein. Jahrelange Konditionierung auf das frauenfeindliche Körperbild der patriarchalen Gesellschaft haben ihr Übriges getan. Die extreme und teilweise auch abseitige, aber eben selbstbestimmte Körperbetontheit des Alt Reggaeton finde ich faszinierend und teilweise auch befreiend. Es hat auch etwas von stellvertretender Emanzipation. Allein zu sehen, dass es Künstler:innen gibt, die mit trashy Gel-Nägeln und entblößtem Körper die Grenzen des von Frauen eingenommenen Raum erweitern, erleichtert mich.

Sicher ist nicht jeder Alt Reggaeton oder Neoperreo Song ein feministisches Manifest. Manchmal ist es schwierig zu sagen, ob ein Song weiblich gelesene Körper auf eine ermächtigende oder eher objektifizierende Weise sexualisiert. Aber eine grundsätzlich andere Mentalität und Haltung im Alt Reggaeton ist nicht von der Hand zu weisen. Von mir aus können ruhig noch mehr Alt Reggaeton Girlies ihre Booties besingen und schwingen. Ich fangirle derweil mit züchtig hochgeknöpftem Hemdkragen vom Zuschauerrang.


Titelbild: Thefader.com

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