„Sie blüht nur einmal im Jahrhundert“ – Wege, die Welt zu beobachten

Ihr kennt das bestimmt, wenn man in TikTok oder Instagram-Reel-Nischen abrutscht. Auf einmal ist man komplett vereinnahmt von Backrezepten, Urzeitkrebsen oder „Rock Tumbling“. Ich bin in die Century-Plant-Nische abgerutscht und hab mich mit Donna Haraway konfrontiert gesehen – doch erstmal von vorne.

Bild: Dylan Freedom/Unsplash

Die Agave, also die Pflanze, aus der Agavendicksaft gemacht wird, ist eine riesige Spargelpflanze aus Mexiko. Sie wird auch gerne Century Plant genannt, weil sie sehr lange wächst, bis sie irgendwann einmal erblüht und dann stirbt. Sie gibt ihr Leben für den Fortbestand ihrer Art. Da das Jahrzehnte dauern kann, wird sie die Jahrhundertpflanze genannt. Nicht nur deswegen ist die Agave spannend. Die Agave ist sowieso schon eine große Pflanze. Der Korpus kann sich über zwei Meter strecken. Aber wenn sie anfängt, den Stängel für die Blüten zu bilden, wächst dieser innerhalb von wenigen Wochen zu einem bis zu 12 Meter hohen Mast.

Ich verfolge, wie viele andere nun schon seit einigen Wochen den Wachstum einer dieser Agaven über TikTok. Nunya Bidness auf TikTok berichtet mehrmals täglich über den Status von „Big Mama’s“ letzten Lebenstagen. Darum hat sich in dieser Zeit eine große Community gebildet. Nunya nimmt uns mit zu der Pflanze, schenkt ihr viele Gedanken, Zeit, Mitgefühl. Ihre Community spricht sie mit Aunties and Uncles an, wir alle sind Teil von diesem schönen und doch irgendwie melancholischen Teil der Natur.

@neworleanslady2023

Big Mama, the Century plant, is blooming, Eagle Family!! You can clearly see the buds opening into flowers. Sorry for not mentioning our Eagle Famiky gathering first but the weather is bad and this may be our only chance to see her flowers. I”m waiting to hear your responses on the question of the day also. It’s a big, big day for Big Mama! I love you all very much! Happy Monday! #agave #centuryplantbloom #gardening #bigmama #fyp #happymonday #rain #thunderstorms #proud #eaglefamily #aunties #uncles #love #summervibes

♬ original sound – Nunya Bidness
Falls das Video nicht zu sehen ist: https://www.tiktok.com/@neworleanslady2023/video/7381493521292856618

Nun bin ich offensichtlich in der Century Plant Bubble gelandet, wodurch mir dann vor einigen Tagen eine andere Agave in die Youtube Shorts Timeline gespült wurde. Dabei hat auch ein anderer Content Creator eine wachsende Agave im Garten stehen und hat nun in einem Short den wahnsinnigen Wachstum der Pflanze dokumentiert. Dafür musste er zu immer verrückteren Methoden greifen, um die schiere Größe der Pflanze zu messen.

Den krassen Unterschied im Umgang mit der Agave fand ich faszinierend. Während eine Person diese Blüte in einer quasi spirituellen Art begleitet und den Prozess als selbstaufopferischen Akt der Pflanze versteht, begrenzt sich eine andere Person auf das Messen der Größe. Natürlich wird euch diese Formulierung bereits einen Bias meinerseits aufzeigen. Aber ich fühlte mich vor allem an Donna Haraways Buch „Primate Visions“ (1989) erinnert. Ich lese gerade eine Werkzusammenfassung von Donna Haraways Arbeit durch Katharina Hoppe. Darin geht sie bereits am Anfang auf Donna Haraways Aufarbeitung von der Einordnung von Gorillaforschenden ein.

Im Natural History Museum in New York werden in 28 Dioramen verschiedenen Szenen mit verschiedenen Tiergruppen vorgestellt. In den Szenen soll Einheit und Harmonie dargestellt und eine Biographie von Afrika und der Natur erzählt werden. Diese gesamte Ausstellung wurde maßgeblich von Teddy Roosevelt bezahlt und unterstützt. Hier werden in einer Habitat-Gruppe der Gorillas, wie bei vielen anderen Tiergruppen auch, ein großes, wachsames männliches, ein bis zwei weibliche Tiere und ein Baby aufgestellt. Der als männlich markierte Gorilla wird als herrschaftlich inszeniert, scheint Individualität und Einzigartigkeit darzustellen. Das passt nun genau ins Bild der Subjektivitiät, die den modernen Liberalismus prägen. Die Message: Hier sieht man den ursprünglichen, natürlichen Menschen. Und gleichzeitig erfüllen sie hiermit das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie. Das Familienoberhaupt muss dabei der starke, unabhängige Subjekt „Mann“ sein. „Die African Hall inszeniert demnach eine Art Fixierung der Essenz des Lebens.“ (S.30). Nach Haraway „haben wir es allerdings eher mit der Essenz einer historisch spezifischen Ausprägung kapitalistischer, sexistischer und hochgradig rassifizierender Vergesellschaftung zu tun.“ (ebd) Weiter geht Haraway auf die Jäger-Hypothese ein. „Jagen wird mit [der Hypothese] als ermöglichend für soziale Kooperation und die Kohäsion einer Gruppe verstanden.“ (S. 32) Somit werden männliche Lebensweise und Rangordnungen als Dreh- und Angelpunkt gelingender sozialer Kooperation aufgefasst. Das ist also das Verständnis von Wissenschaftlern rund um Sherwood Washburn auf die Lebensweisen der Primaten.

Dem gegenüber stellt Haraway die Forschung der „Töchter“, speziell der Wissenschaftlerinnen Phyllis Dolhinow, Sarah Blaffer Hrdy, Suzanne Ripley und Jane Bogess. Die erarbeiten zwar sehr unterschiedliche Analysen, legen den Akzent ihrer Forschung aber auf die Mutter-Kind-Beziehungen. Sie unterbrechen somit die Zentrierung auf die Jagd. So wird die Kindstötung betrachtet, was von den verschiedenen Wissenschaftlerinnen unterschiedlich ausgelegt wird. Letztlich wird es als Bevölkerungsregulierung durch weibliche Gorillas interpretiert. Damit sind weibliche Aktivitäten stärker zu berücksichtigen, als die Jäger-Hypothese suggeriert. Hoppe schließt den Abschnitt damit: „Wissenschaft als öffentliche Praxis des Geschichtenerzählens kann nicht neutral sein, weil sie verwoben ist mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen, Konflikten und Verantwortlichkeiten.“

Es gibt also komplett unterschiedliche Arten, wie selbst Wissenschaftler:innen die Natur und einen spezifisches System darin beobachten. Mir hat dieses Beispiel immer sehr eindrücklich verdeutlicht: Wissenschaft kann nicht neutral sein. Der Blickwinkel hat einen Einfluss auf die Auswahl des Subjekts, auf die Interpretation der Ergebnisse und schließlich auf die Auslegung und Einordnung. Somit sind auch unsere Alltagsbeobachtungen nicht frei von Subjektivität – und Objektivität eine Illusion.

Es ist wichtig, dass wir uns immer vor Augen führen, dass man Narrative über ein und die selbe Sache komplett anders spinnen kann. Je nachdem, welche Vorerfahrung, welchen Blickwinkel eine Person auf eine Sache hat, hat das Auswirkungen: Was einer Person auffällt, was ihr daran wichtig ist und welche Geschichte sie sich über die Welt erzählt. Im aktuellen politischen Diskurs etwa werden wir nicht weiterkommen, wenn wir anti-demokratische, rassistische, diskriminierende Stimmen die Narrative bestimmen lassen. Es ist immer wichtig, dass wir auch unsere Geschichten erzählen und unsere Perspektive mit Anderen teilen. Im privaten Kontext ist das nicht immer einfach. Trotzdem und gerade deswegen wünsche ich mir, dass die Menschen mit einer Empathie von Nunya Bidness auf die Natur, auf sich selbst und andere blicken.

Bild: Ryan Arnst/Unsplash

Titelbild: Clay Banks/Unsplash

Zitiert wurde aus Katharina Hoppe: Donna Haraway zur Einführung (2022) Junius Verlag, Hamburg

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