Liebes Tagebuch, …

Ende des Jahres feiere ich ein kleines Jubiläum: Dann habe ich mein Fünf-Jahres-Tagebuch voll geschrieben. Gut, nicht jede Seite ist komplett gefüllt… aber auf einigen der 366 Seiten (wegen Schaltjahr) mit jeweils 5 Zeilen – für jeden einzelnen Tag im Jahr – befinden sich viele schöne, aber auch traurige Erinnerungen aus den Jahren 2019 bis 2023. Darin enthalten sind Beschreibungen von Reisen nach Mexiko, Spanien, Österreich, Südkorea und Seoul, aber auch die Corona-Pandemie von den ersten Meldungen bis hin zum Lockdown über Impfung und dem ersten Mal Busfahren ohne Maske, das ich 2020 nicht für möglich gehalten habe. Aber auch das letzte gemeinsame Essen mit meiner Oma vor ihrem Tod ist beschrieben.

Das klingt jetzt nach einer großen Sammlung an Erlebnissen, ganz oft ist es aber auch unspektakulär und ich habe reingeschrieben, was ich an diesem Tag gegessen habe oder wie langweilig mein Tag war, der meist aus Arbeit bestand.

Tagebuchschreiben ist aus meiner Sicht aber genau dafür da: Alltägliche Dinge niederzuschreiben, Gefühle und Gedanken für sich zu sortieren und am Abend unmittelbar feztzuhalten, was der Tag für einen bedeutet hat – um, wenn man es ein oder mehrere Jahre später sieht, vielleicht drüber schmunzeln kann oder stolz auf sich ist. Das ist nämlich das Coolste für mich an dem Fünf-Jahres-Tagebuch: Ich kann immer die Einträge des gleichen Tages auf einer Seite lesen. Meine Einträge beginnen dabei übrigens nie mit einer personalisierten Anrede wie „Liebes Tagebuch,…“, sondern häufig mit „Heute…“ – und ich berichte sehr linear von meinem Tag.

Das Tagebuch: ein unterschätztes Medium

Warum schreibe ich jetzt einen Blogbeitrag über das Tagebuch? Aus meiner Sicht ist das Tagebuch ein ganz schön unterschätztes Medium, dass wir uns ruhig auch mal genauer anschauen könnten. Das Tagebuch ist vor allem eine unglaublich vielfältige Medienform. Es ist wie eine Schatztruhe intimer Gedanken und Gefühle. Jede Person kann ihr Tagebuch individuell gestalten. Keins gleicht dem anderen. Es gibt keine vorgegebene Form. Es liest ja auch niemand mit. Das Tagebuch richtet sich an keine Leser*in, sondern dient lediglich dazu, Dinge festzuhalten. Es ist ein Medium, dass konserviert, ohne, dass es eine*n bestimmte*n Empfänger*in hat.

Die Tagebücher, die sicher viele von uns in Teeniezeiten geschrieben haben, waren häufig mit einem Schloss gesichert – sollte ja auch niemand mitbekommen, wer der heimliche Schwarm war oder welche Probleme man mit sich selbst ausmachte. Wenn wir uns diese heute anschauen, dann amüsieren wir uns meist oder sind etwas peinlich berührt. Doch das Tagebuch war für mich, zumindest im meiner Teeniezeit in den 2000er Jahren ein wichtiger Kanal, um meine Gefühle zu sammeln. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich eine ganz schön faule Schreiberin war und wirklich sehr unregelmäßig geschrieben haben. Heute fällt es mir sogar leichter und ich habe das Tagebuchschreiben 2019 für mich wiederentdeckt und schreibe seit dem sehr regelmäßig.

Für mich hat mein Tagebuch eher einen dokumentarischen Charakter. Hier kann ich das Erlebte festhalten und Erinnerungen und Erlebnisse festhalten – egal, welche Gefühlslage sie hervorgerufen haben. Ich halte diese für mein Zukunfts-Ich fest, das sich dann mit etwas Abstand zum Geschehnis auch noch mal Gedanken darüber machen kann. Rückblickend denke ich meistens dann: „Boah, da hast du dir aber auch wieder zu viele Gedanken gemacht…“ aber auch „Klasse, dass hast du gut gemeistert und erfolgreich hinter dich gebracht“. Außerdem ist es ein schönes Ritual, abends im Bett, das Handy wegzulegen und sich die Zeit zu nehmen, den Tag zu reflektieren und sich das Herauszupicken, was ich festhalten möchte. Das Gute: Ich muss keinen Roman schreiben, sondern habe wirklich nur wenige Zeilen Platz, die es zu füllen gibt. Das sind meist auch die wenigen Minuten des Tages, wo ich Dinge wirklich handschriftlich niederschreibe und nicht in ein Handy oder Computer tippe.

Das zu meiner persönlichen Geschichte, doch wie steht es um die Geschichte des Tagebuchs?

Kleine Geschichte des Tagebuchs

Das Tagebuch, in der Form, in der wir es heute kennen, entwickelte sich in der Renaissance und erlebte im 19. Jahrhundert einen Aufschwung. Seit dem empfinden es die Menschen für wichtig, Meinungen und Darstellungen von Erlebnissen in Tagebücher niederzuschreiben. Vor allem im Bürgertum des 19. Jahrhunderts gehörte es zum guten Ton, dass Kinder ihre Gedanken und Gefühle in einer elaborierten Form schriftlich ausdrückten und festhielten. Die Praktik des Tagebuch schreiben festigte sich immer mehr mit der Zeit in der bürgerlichen Bewegung in der Bevölkerung. Und auch das Tagebuch selbst hat das Image eines subjektiven Zeitvertreibs verloren und dient mittlerweile als wichtige wissenschaftliche Quelle für historische Ereignisse wie die NS-Zeit.1 Sie spiegeln gesellschaftliche Verhältnisse und Konventionen der damaligen Zeit wider. Berühmte Tagebücher wie das von Anne Frank haben sicherlich viele gelesen. Es gibt sogar ein Deutsches Tagebucharchiv, in dem Tagebücher gesammelt und analysiert werden. Hierbei geht es nicht nur um historische Ereignisse, sondern auch um den Sprachwandel. Durch historische Tagebücher lässt sich Geschichte greifbar machen und die persönlichen Beschreibungen bleiben Personen besser im Gedächtnis als nüchterne Zahlen aus dem Geschichtsbuch.

Der Historiker Janosch Steuwer hat eine schöne Beschreibung für das Tagebuch gefunden:

 „Die klügste Definition für das Tagebuch ist, dass es sich um eine Serie datierter Spuren handelt.“

Janosch Steuwer zitiert in: Das Dossier: Psycologie heute 03/2024, S. 40)

Kein Anspruch auf Vollständigkeit

Doch kommen wir vom historischen Blick wieder zurück auf meine persönlichen Seiten: Das Beste für mich am Tagebuch schreiben ist es, dass ich meine subjektive Wahrnehmung des Tages unmittelbar und ohne Konzept einfach runterschreiben kann – das gibt es sonst kaum in den uns bekannten Textgattungen. Beim Tagebuchschreiben korrigiert niemand Grammatik oder Rechtschreibung, Aufbau und Zeitformen sind egal. Und es muss auch nicht vollständig sein. Ich wähle in meinen Zeilen zum jeweiligen Tag raus, was mir wichtig ist oder in Erinnerung geblieben ist. Das Tagebuch ist deshalb auch ein sehr begrenztes und ausgewähltes Medium. Es ist nie der komplette Mensch, der sich im Tagebuch wiederfindet, sondern immer nur ein Ausschnitt seiner subjektiven Wahrnehmung. Und manchmal sind einige Tage auch leer. Da habe ich es nicht gefühlt, die Geschehnisse des Tages zu sortieren. Und auch das ist vollkommen in Ordnung. Am Anfang meiner Tagebuchreise hatte ich den Anspruch, jeden Tag zu dokumentieren. Ich habe mir sogar Klebezettelchen an Tagen reingemacht, die noch fehlen, um sie dann wieder zu rekonstruieren. Das sehe ich heute deutlich entspannter: Lücken gehören für mich auch dazu.


Beitragsbild: Unsplash / Gringhraf

Quelle:

  1. Das Dossier: Psychologie heute 03/2024 ↩︎

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