Vor kurzer Zeit hat die EU-Kommision Leitlinien für soziale Medien veröffentlicht. In der derzeitigen Corona-Pandemie werden Facebook, Twitter und andere Netzwerke aufgefordert, monatlich über den Kampf gegen Desinformationen zu berichten. Auch wenn es hier in Deutschland Vorwürfe aufgrund von Fake News auf Sozialen Netzwerken gibt, schauen wir nach Russland mit einem ganz anderen Gefühl: Verzweiflung aufgrund von Manipulation und Zensur vom Staat bei politischen Nachrichten und auch allgemein bei Beiträgen auf Social Media Kanälen. Bei einem Medienforum in St. Petersburg zum Thema Messages & Messenger – Neue soziale Medien im Journalismus Deutschlands und Russlands habe ich ähnliche, wenn auch etwas vorsichtigere Meinungen von Russ:innen über ihre sozialen Netzwerke mitbekommen.
In der derzeitigen Pandemie schauen wir vielleicht noch skeptischer als sonst schon nach Russland. Das Land hat mehr als eine halbe Millionen Corona-Infizierte und liegt damit weltweit an dritter Stelle (Stand 10.06.2020). Offiziell sind allerdings nur knapp 8000 Covid-19-Tote gemeldet, deswegen gibt es derzeit mal wieder viele misstrauische Äußerungen über eines der größten Länder mit einem der mächtigsten Männer der Welt. Auch in den sozialen Netzwerken finden sich momentan viele falsche Informationen. Der EU-Außenbeauftragte Joseph Borell wies darauf hin, dass einige „der zahlreichen Desinformationskampagnen in den sozialen Netzwerken […] aus russischen und chinesischen Quellen“ stammten. Aufgrund dessen fragen sich einige Russ:innen zurecht, welchen sozialen Netzwerken und Medien sie trauen können.
Beliebte Netzwerke in Russland
Anders als bei uns dominieren in Russland Unternehmen wie VKontakte und OdnoKlassniki noch vor Facebook und Twitter den Markt. VKontakte und OdnoKlassnik wurden in Russland entwickelt. Fast 50 Prozent der Bevölkerung sind laut Russian Search Marketing aktive Social Media Nutzer. Im Vergleich zu anderen westlichen Nationen sind das zwar weniger, aber weltweit gesehen übertrifft die Anzahl der aktiven Nutzer die der anderen Orte auf der Welt. Auffällig ist, dass diese zwei Netzwerke VKontakte und OdnoKlassnik Kopien westlicher Vorbilder wie Facebook zu sein. Das liegt daran, dass die vermeintlich originalen/von außerhalb stammenden sozialen Netzwerke in Russland zunehmend unter Druck stehen. Die Seite LinkedIn ist beispielsweise gesperrt worden, weil es Kritik gab, dass russische Nutzerdaten auf ausländischen Servern gespeichert werden.

Datenschutz in Russland
Ein ebenfalls sehr erfolgreiches Netzwerk in Russland, besonders in Moskau und St. Petersburg ist Telegram. Als einer der ersten Dienste mit Ende-zu-Ende-verschlüsselter Kommunikation ist das Netzwerk sowohl für Aktivist:innen, Politiker:innen und auch Bürger:innen schnell populär geworden. Durch Datenschutzverletzungen anderer Sozialen Medien machte sich Telegram ein positives Image, als ein sicherer Ort für Nachrichten und Gespräche. Die Versuche, den Messenger durch die russische Regierung zu blockieren, hatten den gegenteiligen Effekt, dass das Netzwerk immer berühmter wurde. Als die Behörden versuchten Telegram zu blockieren, demonstrierten Tausende Menschen auf die Straße für Freiheit im Netz. Der Youtuber Michail Swetow, der zu der politischen Gruppe von Protestlern gehört und bei einer Demonstration gegen Internetzensur festgenommen wurde, kämpft für die Freiheiten auf Plattformen wie Telegram: „Das Internet ist der einzige freie Raum in Russland, in dem man sich vernetzen und organisieren kann“2. Er selbst ist 34 Jahre alt und meint: „Wir sind mit großen Freiheiten aufgewachsen, wir kennen keine staatliche Zensur mehr wie unsere Eltern.“3 Die Worte mögen aus deutscher Sicht widersprüchlich klingen, zeigt aber das für Russen das Internet, insbesondere Kanäle wie Telegram und Youtube Möglichkeiten der freien Meinungsäußerung bieten, auch wenn sie immer wieder von der Regierung bekämpft werden und sich Journalisten mit politischen Beiträgen in Gefahr bringen. Denn anders als in den großen Nachrichtenagenturen wird man in diesen Netzwerken nicht schon von Anfang an daran gehindert, seine Meinung oder kritische Meldungen zu veröffentlichen.
Doch nicht alle Netzwerke sind vor staatlicher Zensur sicher: In Russland werden die Nachrichten von Nutzer:innen grundsätzlich deutlich mehr überwacht, als in den meisten anderen, demokratisch regierten Ländern. Die Software hinter der Überwachung nennt sich SORM und wird direkt in die Kommunikationsinfrastruktur eingebaut und ermöglicht eine systematische Massenüberwachung von Telefonaten und Nachrichten. Die Technik schuf vor einigen Jahren der sowjetische Geheimdienst KGB.4 Die SORM-Technik ist per Gesetz verpflichtend und gibt dem Inlandsgeheimdienst jederzeit Zugriff auf die Kommunikationsdaten der Bürger:innen, ohne vorher bei den Unternehmen anfragen oder eine gerichtliche Erlaubnis vorweisen zu müssen. Glücklicherweise sind jedoch nur bei einem Bruchteil der Geräte die Technik installiert. Das hat zwei Gründe: Erstens gibt es nicht genügend SORM-Technik und zweitens können sich vor allem kleine und mittlere Unternehmen den Kauf der teuren Geräte nach eigenen Angaben kaum leisten.5
Notfalls einfach offline gehen
Russlands Behörden haben ein Mittel, selbst vermeintlich sichere Kanäle wie Telegram zu unterbinden: Sie sperren den allgemeinen Zugang zum Internet. Im Herbst 2018 in der südrussischen Teilrepublik Inguschetien, wo ein Teil der Bevölkerung gegen die neue Grenze zur Nachbarrepublik Tschetschenien protestierte und bei Demonstrationen im Sommer 2019 in Moskau, wurde plötzlich das mobile Internet tagelang abgeschaltet. Nachdem sich Nutzer:innen beschwerten erklärten Mobilfunkanbieter, sie hätten auf Anweisung der Behörden gehandelt. Ein zukünftiges Gesetz über ein abgekoppeltes Internet soll den Behörden ermöglichen, den Internetzugang der Bevölkerung jederzeit selbst zu drosseln – und zwar nicht nur auf mobilen Geräten, sondern auch über das Festnetz. Der Journalist Andrej Soldatow sagt: „Niemand im Kreml glaubt, dass sich das Internet komplett kontrollieren lässt – aber zu verhindern, dass Proteste von einer Region auf die andere übergreifen, das ist durchaus realistisch.6

Meine eigenen Erfahrungen beim Medienforum in St. Petersburg
Auch wenn viele der russischen Teilnehmer auf dem Medienforum schon einmal in Deutschland waren und sich sowohl mit den Netzwerken aus ihrer Heimat, als auch mit internationalen Unternehmen wie Facebook, Whatsapp und Twitter auskennen, habe ich deutliche Unterschiede bemerkt in der allgemeinen Bewertung der Messenger und der Auffassung über Chancen für Journalisten mittels Social Media zu arbeiten. Während für Teilnehmer wie mich die kritische Überprüfung von Informationen und die differenzierte Nutzung von Online-Inhalten auf den Plattformen als eines der wichtigsten Punkte angesehen wurde, bemerkte ich, dass von russischen Teilnehmern der offene Zugang zu Informationen im Vordergrund stand. Diese Herangehensweisen an das Thema hat mir schnell gezeigt, dass der unterschiedliche Blickwinkel mit den politischen Strukturen der Länder und der journalistischen Arbeit zu erklären ist. Nachdem ich zunächst Schwierigkeiten hatte, die etwas verschlossenen russischen Referent:innen zu verstehen, die niemals die Regierung bezüglich Pressefreiheit und Meinungsfreiheit kritisiert hätten, habe ich die jugendlichen Teilnehmer:innen am Abend nach ein oder zwei Gläsern Bier immer mehr verstanden. Wenn man wie sie Mitte 20 ist, in St. Petersburg oder einer anderen größeren Stadt in Russland aufgewachsen ist und Journalismus studiert, dann hat man schon eine sehr viel offenere und kritischere Vorstellung von Social Media. Sie sind wie ich privat und beruflich auf den sozialen Kanälen unterwegs und kennen sich dort meist besser aus, als die älteren Generationen. Trotzdem habe ich die Aussagen der russischen Teilnehmer:innen vorsichtiger wahrgenommen, als die der Deutschen. Sie wissen, dass es nicht ganz ungefährlich ist, wenn sie kritische oder umstrittene Inhalte veröffentlichen oder online unterstützen. Das machte mir auch ein Besuch in der regierungsunabhängigen Nachrichtenagentur Bumaga in St. Petersburg deutlich. Auf einem versteckten Hinterhof, hinter einer schlichten roten Tür haben wir vom 27-jährigen Geschäftsführer erfahren, dass es nicht einfach ist, öffentlich einen kritischen Blick zu äußern und dass es trotzdem so wichtig ist, dass es Unternehmen wie diese gibt, auch wenn es ihnen von der Regierung nicht leicht gemacht wird und auch bei ihnen schon Artikel gesperrt wurden. Aber es gibt glücklicherweise genügend Journalisten, die sich nicht demotivieren lassen. Viele jugendliche Journalisten wollen Online-Netzwerke nutzen, um freier zu schreiben. Auf dem Medienforum war ich begeistert von der Motivation, dass die meisten russischen Teilnehmer:innen schon mit jungen Jahren ihre eigenen Projekte und Agenturen auf die Beine stellen wollen.
Natürlich ist dies nur ein kleiner Einblick bezogen auf meine persönlichen Erfahrungen in St. Petersburg und auch wenn die Teilnehmer:innen und Referent:innen aus ganz Russland angereist kamen, haben auch sie – wie ich selbst auch – ihre speziellen Erfahrungen in den Medien und Sozialen Netzwerken gemacht und sind in bestimmten privilegierten Kreisen unterwegs, die es ihnen, wie mir, ermöglichten, an diesem Forum teilnehmen zu können. Deswegen ist dieser Text gerade zum Ende von subjektiven Erfahrungen geprägt und sollte dementsprechend gelesen werden.
1 Reporter ohne Grenzen (https://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Downloads/Berichte/2019/Russlandbericht_20191128.pdf, S. 56)
2 Reporter ohne Grenzen (https://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Downloads/Berichte/2019/Russlandbericht_20191128.pdf, S. 49)
3 Ebd.
4 Reporter ohne Grenzen (https://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Downloads/Berichte/2019/Russlandbericht_20191128.pdf, S. 58)
5 Ebd.
5 Reporter ohne Grenzen (https://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Downloads/Berichte/2019/Russlandbericht_20191128.pdf, S. 62.)
Beitragsbild: Franziska Venjakob